Grand Cru
seine Haare in Fasson hatte bringen lassen, stieg Bruno durch das Treppenhaus der
mairie
hinauf in sein Büro und fragte sich wie so off, wie viele Schritte nötig gewesen waren, um die steinernen Stufen in den Jahrhunderten ihres Bestehens dermaßen tief abzuwetzen. Auf seinem Schreibtisch erwartete ihn ein Stapel Post, der übliche Schreibkram und eine Agenda, die während der Tage, in denen er mit Jean-Jacques im Forschungsinstitut zugebracht hatte, um etliche Punkte angewachsen war. Er musste Leuten, die sich um einen neuen Arbeitsplatz bewerben oder an der Universität studieren wollten, Führungszeugnisse ausstellen und Verträge mit Musikern ausarbeiten, die für den Bürgerball anlässlich des großen Jahrmarktes von Saint-Louis engagiert werden sollten. Als Schriftführer des Sportausschusses im Stadtrat musste er einen Scheck über die erste Rate unterzeichnen, die für den Neuanstrich des Rugbystadions in Rechnung gestellt worden war. Und aus der Pariser Polizeipräfektur war ein Fax mit der Nachricht vom Tod einer in Saint-Denis gemeldeten Frau eingegangen, deren Angehörige nun verständigt werden mussten. Den Namen der Verstorbenen hatte Bruno nie gehört, der Adresse nach zu urteilen, schien sie aber jener Hippiekommune angehört zu haben, die seit den Sechzigern in den Hügeln ansässig war und sich wahrscheinlich nur deshalb so lange schon hatte behaupten können, weil sie den besten Ziegenkäse produzierte, den es auf dem Markt gab. Er nahm sich vor, irgendwann im Laufe des Nachmittags dort anzurufen und die Gelegenheit zu nutzen, ein paar Fragen zu Gentechnik und militanten
écolos
zu stellen.
Seine Schirmmütze landete auf dem Bücherbord neben der Baseballkappe mit fbi-Emblem, die ihm ein Freund aus New York mitgebracht hatte. Er quetschte sich an den Aktenschränken vorbei und nahm hinter dem verbeulten Metallschreibtisch auf seinem Drehsessel Platz, der ihn mit vertrautem Quietschen willkommen hieß. Sein Blick durchs Fenster fiel auf den verkehrsreichen Kreisel und die geschäftige Einkaufsstraße dahinter.
Die Passanten, die er sehen konnte, waren größtenteils Touristen, die die Aushänge in den Fenstern der Immobilienmakler studierten. Das neue Saint-Denis bestand aus vier Bäckereien, vier Friseursalons, vier Maklerbüros, drei Banken, drei Delikatessenläden, in denen es
foie gras
und andere Spezialitäten der Region zu kaufen gab, aber nur ein Lebensmittelgeschäft und eine Metzgerei. Der Fischhändler hatte schon vor langem einer Versicherungsagentur Platz gemacht, und da, wo früher ein zweiter Lebensmittelladen gewesen war, hatte im vergangenen Winter ein Servicebetrieb für Computer und dsl-Anschlüsse aufgemacht, der außerdem Handy-Verträge und -Zubehör verkaufte. In den zehn Jahren, die Bruno nunmehr Polizeichef von Saint-Denis war, hatte sich das Gesicht der Stadt sehr verändert. Damals hatte sie noch dem typischen, von alters her bekannten Bild einer Kleinstadt im ländlichen Frankreich entsprochen. Jetzt kaufte man in den Supermärkten am Stadtrand; viele fuhren sogar über fünfzig Kilometer weit bis nach Périgueux, um in den modernen Geschäftskomplexen zu shoppen. Seufzend wandte sich Bruno seiner Arbeit zu.
Er stellte Führungszeugnisse aus, unterschrieb sie und drückte jedem den erforderlichen Amtsstempel auf, nahm ein paar kleine Korrekturen an den Musikerverträgen vor und meldete der Präfektur zwei Todesfälle. Dann rief er Pater Sentout an, um sich bestätigen zu lassen, dass für eine kirchliche Beisetzung gesorgt war, und als er den Hörer aufgelegt hatte, fiel ihm plötzlich ein, vor Monaten ein Führungszeugnis für Dominique, die Tochter von Stéphane Suchet, ausgestellt zu haben. Die Kopie war schnell gefunden, und tatsächlich: Sie hatte sich beim Institut für landwirtschaftliche Forschung für einen Sommerjob als Laborassistentin beworben, und wahrscheinlich nicht nur sie, sondern viele andere. Er und Jean-Jacques hatten nur die Festangestellten und Hilfskräfte befragt, ehemalige Praktikanten aber außer Acht gelassen. Verflixt, da wartete also noch mehr Arbeit auf ihn.
Bruno überlegte. Dominique war mit ihrem Vater am Brandort gewesen, verständlich, denn ihr Hof lag am Fuß des Hügels. Trotzdem ein bemerkenswerter Zufall. Bruno schaute wieder auf Dominiques Führungszeugnis, dem eine Empfehlung ihres ehemaligen Lehrers am
collège
beigefügt war, der Mittelschule, die die Kinder von Saint-Denis besuchten, bevor sie aufs Gymnasium wechselten.
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