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Granger Ann - Varady - 01

Titel: Granger Ann - Varady - 01 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nur der Tod ist ohne Makel
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wüssten genau, wo dies zu
finden sei. Wir konnten gar nicht schnell genug wieder von
dort verschwinden.
Jetzt fingen die Stadtentwickler auch auf unserer Seite des
Flusses mit der Sanierung an, wenn auch wesentlich langsamer. Die Straßen und Häuser unseres Stadtteils lagen um die
schicken Neubauten herum wie eine Bretterstadt oder eine
Slumsiedlung am Rand einer x-beliebigen Großstadt in der
Dritten Welt. Die meisten Menschen hier hatten genauso wenig eine Chance, den großen Graben noch einmal zu überwinden, der sie vom lebendigen Teil der Stadt trennte, wie sie
sich hätten Flügel wachsen lassen und davonfliegen können.
Es waren hauptsächlich die Älteren, die mit alledem nicht
zurecht kamen. Alte Männer, die ihr ganzes Leben lang unten an den Docks gearbeitet hatten, bevor es keine Arbeit
mehr gab und die Kais zu Touristenattraktionen geworden
waren. Alte Frauen, die schon zu Zeiten des Blitzkriegs hier
gelebt hatten und noch immer Tag für Tag ihre Vordertreppen kehrten. Menschen wie die Eltern von Ganesh, die im
Glauben hergekommen waren, dass es von hier aus vorwärts
und aufwärts gehen würde und dass sie einen neuen Anfang
in einem neuen Land vor sich hatten. Menschen, die hart
für ihren Erfolg gekämpft hatten und sich unvermittelt in
dieser urbanen Wildnis gefangen sahen, weit entfernt von
allem, was sie sich erträumt hatten.
Ich denke, Mr. Patel, der Gemüsehändler, hoffte, dass die
Städteplaner dafür sorgen würden, dass sein Laden dann in
einer guten Wohngegend läge – auf der anderen Seite des
Flusses hatte deren Plan ja auch schon funktioniert, denn
wer hier in dieser Gegend wohnte, besaß nicht besonders
viel Geld. Wenn erst Menschen hierher zogen, die mehr in
den Taschen hatten, würden sie vielleicht einen Teil davon
in seinem Geschäft lassen. Mr. Patel hatte eine Menge Pläne,
indische Spezialitäten und was weiß ich nicht alles. Ich sagte
ihm lieber nicht, dass die Stadtverwaltung sein Geschäft
wahrscheinlich ebenfalls abreißen würde. Jeder braucht seinen Traum.
Genau gegenüber von Mr. Patels Laden, auf der anderen
Straßenseite, befand sich eine leerstehende Kapelle mit einer
alten Begräbnisstätte dahinter. Wir nannten sie ›Friedhof‹.
Das Gebäude war verschlossen und vernagelt, das Glas in
den pseudogotischen Fenstern zerbrochen, und in den Rissen im Mauerwerk wuchs Unkraut. Die Kapelle war ursprünglich von einer freien Religionsgemeinschaft errichtet
worden und hatte seit damals mehrfach den Besitzer und
die Religion gewechselt. Die Letzte, die die Kapelle zu Gottesdiensten nutzte, war die Church of the Beauteous Day gewesen.
Diese ›Kirche des Lieblichen Tages‹ war wirklich eine beeindruckende Gemeinschaft. Eines Sonntagmorgens waren
sie aufgetaucht, ganze Familien im besten Sonntagsstaat, ein
Bild wie Mardi Gras. Sie wussten, wie man den Herrn anbetete, mit Gesang und Zimbelspiel, so viel steht fest. Ganz zu
schweigen von Posaunen, Chören und Händeklatschen.
Wenn sie nicht gerade Musik machten, lauschten sie ihrem
Prediger, Reverend Eli, und riefen freudig »Halleluja!« und
»Ja, o Herr!«. Für einen Tag in der Woche brachten sie Licht
und Leben und Glauben in unsere Straße. Doch die Örtlichkeiten waren nicht geeignet für all ihre geselligen Veranstaltungen, und so zogen sie wieder aus, angeführt von ihrem Reverend Eli, einem winzigen Mann mit grauem Kraushaar. Er führte all die lächelnden Ladys mit ihren Blumenhüten, die schicken jungen Männer, die kleinen Jungen mit
ihren Fliegen und die Mädchen mit den schneeweißen Söckchen davon, wie Moses die Kinder Abrahams in die Wüste
führte. Ich weiß nicht, wohin der Reverend seine Schafe geführt hat. Einige meinten, sie wären nach Hackney umgezogen. Mir persönlich tat es Leid. Ich vermisste sie, insbesondere Reverend Eli, der jedes Mal, wenn ich ihm über den Weg
gelaufen war, laut gesungen hatte: »Bist du bereit zur Reue,
Kind?«, um mir dann mit blitzenden Goldzähnen zuzulächeln.
Die Kapelle stand zwar leer, doch die Begräbnisstätte
wurde immer noch benutzt. Eine verrückte alte Landstreicherin namens Edna hatte zwischen den Grabsteinen ihr
Lager aufgeschlagen und lebte dort zusammen mit einer
Familie wilder Katzen. Wer eine Abkürzung über den
Friedhof nahm, erlebte regelmäßig eine Überraschung,
wenn die Verrückte Edna hinter einem Grab hervorsprang
wie Magwitch aus Charles Dickens’ Große Erwartungen und
eine Unterhaltung begann. Sie war stets

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