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Granger Ann - Varady - 01

Titel: Granger Ann - Varady - 01 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nur der Tod ist ohne Makel
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nahm es mit Gelassenheit. Ich
zog meinen Turgenjew aus der Jackentasche und las die ersten Seiten von Ein Monat auf dem Lande.
Ich wünschte, ich hätte diesen Schauspielkurs beendet. Es
hatte gerade angefangen, interessant zu werden, als ich gegangen war. Ich erinnere mich noch, dass wir uns in eine
Rolle hineinversetzen sollten, wenn wir lasen. Also suchte
ich mir die Rolle der Natalia aus und machte mich an die
intellektuelle Übung, sie zu werden.
Mein erster Gedanke war, dass die Russen Ewigkeiten
brauchen mussten, um eine Unterhaltung zu führen, weil
sie sich gegenseitig dauernd mit solch komplizierten Namen
anredeten.
Abgesehen davon fand ich bald heraus, dass es in dem
Stück um eine Gruppe von Leuten geht, die in den 1840er
Jahren in der russischen Wildnis in einem Haus festsitzen,
sich alle zu Tode langweilen und trotzdem versuchen, irgendwie miteinander auszukommen. Nicht sonderlich erfolgreich, wie ich hinzufügen möchte, was keine Überraschung sein kann, wenn man bedenkt, wie lange eine Figur
des Stücks braucht, um eine andere auf einen Spaziergang
einzuladen.
Wie würde mein Leben auf dem Lande sein, wenn ich
dort ankäme? Die Hitze war überwältigend. Ich klappte das
Buch zu und schlief mit dem Kopf in der harten Ecke zwischen Sitz und Fenster ein.
Als ich wieder aufwachte, fuhren wir mit ziemlichem
Tempo über die Landstraße. Ich trank Ganeshs Orangensaft
und aß eine Tüte Chips. Ich hatte mir immer noch nicht
überlegt, was ich tun würde, wenn ich in Abbotsfield angekommen war. Ich hatte meinen Ausflug alles andere als gut
vorbereitet. Nur eine Kamera auszuleihen war nicht genug.
Und dann, bevor ich mich’s versah, waren wir in Basingstoke und ich musste aussteigen.
    Wie vermutlich die meisten anderen Menschen auch, so
hatte ich mir stets vorgestellt, dass »auf Reisen sein« oder
»verreisen« bedeutete, dass man die Grenzen zu einem anderen Land überschreitet. Einige Länder erscheinen einem
fremdartiger als andere. Für mich beispielsweise war Ungarn nie ein fremdes Land, weil Großmutter Varady so viel
darüber gesprochen hatte. Und doch war ich niemals dort.
Würde ich heute hinfahren, es wäre nicht das Ungarn aus
Großmutters Erinnerung. Es wäre ein anderes Ungarn, anders als alles, was ich mir je vorgestellt hatte. Vielleicht ist
das der Grund, warum ich nie ernsthaft Anstrengungen unternommen hatte, nach Ungarn zu reisen. Ich möchte nicht,
dass mein Bild von Ungarn Schaden nimmt.
    Die Wahrheit ist selbstverständlich subtiler, wie immer.
Keiner von uns muss weit reisen, um ein anderes Stammesterritorium vorzufinden, ganz bestimmt nicht über die Grenzen
des eigenen Landes hinaus. Man muss nur ein paar Straßen
weit fahren, ein paar Meilen, einen einzelnen Häuserblock,
und schon ist man ein Fremder. Das war es, was Ganesh mir
zu sagen versucht hatte, und er hatte Recht gehabt.
    Es wurde mir bewusst, sobald ich einen Fuß auf den Boden von Basingstoke setzte. Ich gehörte nicht hierher. Ich
wusste nicht, wo ich anfangen sollte. Ich wanderte eine Weile umher und kaufte eine Tüte Fritten mit Malzessig, die ich
auf der Straße aß, während ich überlegte, ob ich weitermachen oder einfach in den nächsten Bus zurück nach London
steigen sollte. Es erschien mir kaum vorstellbar, dass ich
heute Morgen noch in meiner vertrauten Umgebung aus
vernagelten Häusern und baufälligen Wohnblocks gewesen
sein sollte.
    Basingstoke war von einer geradezu deprimierenden Aura der Rechtschaffenheit umgeben, ein angenehmer, langweiliger kleiner Ort, immerhin halbwegs lebendig. Wahrscheinlich war es einmal ein Marktflecken gewesen, doch
dann war es von der modernen Zeit eingeholt worden, besaß plötzlich zwei glänzende Bürotürme und hatte jetzt ein
Janusgesicht. Menschen hasteten umher und sahen genauso
aus wie in allen anderen Städten. In der Menge hier gab es
eine Reihe von Frauen in wadenlangen Kleidern und Strickjacken über Blusen. Einige trugen Kopftücher, teure Kopftücher, die ihnen das Aussehen von Royals während der
Freizeit verliehen. Wenn ich dagegen ein Kopftuch überziehe, sehe ich aus wie eine Babuschka.
    Die Zeit verging. Ich wusste immer noch nicht, wie ich
weitermachen würde, wenn ich erst in Abbotsfield angekommen war, geschweige denn, wie ich dorthin kommen
und Astara finden sollte oder wo ich heute Nacht schlafen
würde.
    Ich überlegte, ob ich vielleicht Alastair Monkton anrufen
und ihm sagen sollte, dass ich auf dem Weg sei, doch ich
kniff,

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