Granger Ann - Varady - 02
Das Fenster
sah genauso aus wie das im Treppenhaus, das ich vorhin gesehen hatte, groß und altmodisch. Anhand des Grundrisses,
den ich mir zurechtgelegt hatte, schätzte ich, dass es auf der
gegenüberliegenden Seite des Gebäudes lag, also nach draußen zur Straße zeigte.
Das Mobiliar war spärlich. Ein tragbarer Fernseher auf
einer Holzkiste. Ein zusammenklappbares Bett mit einer
zerwühlten Decke darauf und einem Kissen. Der Lehnsessel
und der Holzstuhl, auf dem ich selbst saß. Eines von jenen
Blechtabletts mit klappbaren Tischbeinen, praktisch, wenn
jemand bettlägerig ist oder bei einem Picknick. Auf dem
Tablett lagen ein Pappteller und eine leere Aluschale, beide
verschmiert mit den Überresten von Fastfood, chinesisch,
nach den eingetrockneten Reiskörnern zu urteilen. Eine
verbeulte Blechgabel, die aussah, als wäre sie seit mehreren
Mahlzeiten nicht mehr abgewaschen worden. Das Zimmer
war das reinste Loch, und mir fiel absolut kein Grund ein,
aus dem sie geduldig hier sitzen bleiben und abwarten sollte.
Warum also saß sie verdammt noch mal hier?
»Ist es wegen des Geldes?«, stellte ich die offenkundige
Frage zuerst. »Gibt dir dein Vater nicht genug Geld, sodass
du versuchst, es auf diese Weise aus ihm herauszupressen?«
Sie verzog das Gesicht. »Er ist nicht mein Vater«, fauchte
sie, »sondern mein Stiefvater! Das ist ein gewaltiger Unterschied!«
»Aber du hast seinen Namen angenommen.«
»Ich wurde nicht gefragt. Ich habe den Namen einfach
aufgedrückt bekommen. Er hat mich adoptiert, nachdem er
meine Mutter geheiratet hat. Er hat es nicht getan, weil er
mich gewollt oder gar geliebt hätte, sondern weil es ihm
Macht über meine Mutter gegeben hat!«
»Ich habe Vincent Szabo kennen gelernt«, sagte ich vorsichtig. »Es scheint, als hätten er und mein Vater sich gekannt, vor vielen Jahren.«
Überraschung blitzte in ihren Augen auf und spiegelte
wider, wie rasch sie ihre Gedankengänge an die neuen Fakten anpasste. Sie verarbeitete die Information und steckte sie
weg.
»Ach, wie nett!«, meinte sie grob und fügte hinzu: »Und?
Was hältst du von meinem Stiefvater? Welchen Eindruck
hast du von ihm?«
Ich überlegte, bevor ich ihr antwortete. Ich rief mir den
kleinen Mann in seinen zu großen Klamotten ins Gedächtnis, wie er in seinem zu großen Wagen gesessen hatte, gefahren von einem furchteinflößenden Chauffeur. Es war, als
hätte ich ein Kind beobachtet, das in Erwachsenenkleidung
spielt, in viel zu großen Schuhen herumläuft und den Aktenkoffer seines Vaters mit beiden Händen durch die Gegend zerrt. Doch es wäre dumm gewesen, einen so erfolgreichen Geschäftsmann zu unterschätzen. Was auch immer er
sonst sein mochte, er war bestimmt niemand, der nur spielte. Er hatte etwas an sich, das mich vorsichtig gemacht hatte.
Ich war nicht schlau geworden aus diesem Vincent Szabo –
bis jetzt nicht. Ich erinnerte mich deutlich, wie er sich
schmerzvoll gewunden hatte bei dem Gedanken an die Foltern und Qualen, die seine geliebte Stieftochter ausstehen
musste. Die gleiche Stieftochter, die, wie mir nun dämmerte, grausam gleichgültig gegenüber seinen väterlichen Gefühlen war.
Vorsichtig antwortete ich: »Diese Geschichte geht ihm
wirklich sehr nah, Lauren. Er stellt sich alles Mögliche vor.
Er glaubt, dass du verängstigt bist, halb verhungert, eingesperrt in einen Schrank oder einen dunklen Keller oder vielleicht sogar schon tot!«
»Gut«, sagte sie böse. »Soll er ruhig ein wenig schwitzen.«
»Warum?«, fragte ich heftig.
Sie nahm die Hände von den Plüschlehnen des Sessels
und legte sie auf die Oberschenkel. »Du solltest etwas über
Vinnie Szabo erfahren«, sagte sie. »Er ist nichts weiter als ein
gemeiner altmodischer Frauenschläger. Ein schlauer und
gerissener obendrein, wenn es darum geht, Beweise zu verschleiern, aber nichtsdestotrotz ein widerliches, grausames,
gemeines kleines Monster.«
»Das Frauenhaus!« Plötzlich dämmerte es mir. »Das ist
der Grund, aus dem du dort ausgeholfen hast!«
»Sicher. Mummy und ich haben ein paar Wochen dort
gewohnt, als ich acht Jahre alt war. Sie ist vor Vinnie davongerannt und nach London geflüchtet, weil sie dachte, dass er
sie dort nicht finden würde. Doch Vinnie Szabo lässt sich
nicht so leicht abschütteln. Er hat uns aufgespürt und hat
meine Mutter überredet, zu ihm nach Hause zurückzukehren. Er hat ihr versprochen, sich zu ändern und all diesen
Mist, aber er hat sich natürlich nicht geändert. Es ging
Weitere Kostenlose Bücher