Granger Ann - Varady - 02
anderen erledigen zu lassen. Plötzlich bin ich da, Bondis Tochter. Ich
gehöre fast zur Familie.«
»Ich verstehe ja, wie er sich fühlt, aber er könnte die ganze polizeiliche Ermittlung verderben«, meinte Ganesh missbilligend, während er die Reste des Hühnchengerichts aus
der Aluminiumschale kratzte und auf meinen Teller schob.
Es war lieb von ihm, daran zu denken, mir etwas Fleisch
zum Essen mitzubringen. Ganesh selbst ist Vegetarier. »Und
wie hat er erfahren, dass du die Tochter eines Freundes bist?
Ich meine, wie hat er Parry dazu gebracht, ihm deine Adresse zu verraten?«
»Ha!«, stieß ich finster hervor. »Würden wir nicht alle
gerne wissen, was Sergeant Parry im Schilde führt? Der hat
vielleicht Nerven: Szabo zu mir zu schicken! Was hat er
denn geglaubt, was ich Vincent Szabo sagen würde, das ich
der Polizei noch nicht erzählt habe? Glaubt er vielleicht,
dass ich Informationen zurückhalte? Ich hab der Polizei alles gesagt, was ich weiß, und was haben sie mit meinen Informationen gemacht? So gut wie nichts!«
Wir saßen schweigend da und aßen. Ganesh war tief in
Gedanken versunken, und ich störte ihn nicht, weil er im
Allgemeinen gut im Ausbaldowern von Zusammenhängen
ist und außergewöhnlich gut darin, schwache Glieder in Argumentationsketten aufzudecken, insbesondere meinen Argumentationsketten.
»Mir scheint«, meinte er zu guter Letzt, »dass du die Sache von einem ganz falschen Standpunkt aus betrachtest.
Das heißt, von deinem Standpunkt aus anstatt von Parrys.
Was ich damit sagen will, ich glaube nicht, dass Parry denkt,
du würdest ihm nicht alles sagen, was du weißt. Er denkt
viel eher, dass Szabo ihm nicht alles sagt. Womit ich nicht
andeuten will, dass Szabo richtig heftigen Dreck am Stecken
hat. Wahrscheinlich segelt er einfach nur manchmal zu
dicht am Wind, und es ist nicht in seinem Interesse, der Polizei zu tiefen Einblick in seine Geschäfte zu geben. Ich gehe
jede Wette ein: Der hat zumindest Geld ins Ausland geschafft, und die Steuerfahndung ist ihm dicht auf den Fersen.«
»Er liebt seine Privatsphäre, das hat er mir wortwörtlich
gesagt«, informierte ich Ganesh.
»Siehst du? Normalerweise würde er wahrscheinlich einen Bogen von hundert Meilen um jeden Polizisten oder irgendeine andere Behörde machen. Wer kann es ihm verdenken? Sieh dir doch nur an, was die mit Onkel Hari gemacht haben! Aber jetzt ist Szabos Tochter Lauren entführt
worden. Szabo muss seine Haustür öffnen und die Polizei
mit ihren großen Füßen über seine Schwelle lassen. Aber
nicht weiter, als unbedingt nötig. Er führt sie nicht in sein
Wohnzimmer und lädt sie auch nicht zum Tee ein. Die Polizei würde gerne mehr über Szabo wissen und wie es dazu
gekommen ist, dass seine Tochter irgendwo eingesperrt in
einem Keller sitzt, während ein paar Mistkerle ihre Familie
unter Druck setzen. Vielleicht gibt es eine Spur oder eine
Verbindung, die Parry nicht hat entdecken können, weil
Szabo versucht, schlau zu sein. Der Mann will, dass seine
Tochter gefunden wird, aber er ist ein Geschäftsmann und
glaubt, er könnte der Polizei einen Handel aufzwingen. Er
will Lauren zurück und dafür so wenig wie nur irgend möglich bezahlen. Parry benutzt nicht Szabo, um dich aus der
Reserve zu locken, sondern er benutzt dich, um Szabo aufzuschrecken.«
»Das arme Ding«, seufzte ich. »Als wäre Lauren nicht
schon genug in Schwierigkeiten. Jetzt spielen Szabo und
Parry auch noch dumme Spielchen, anstatt zusammenzuarbeiten. Ich hoffe nur, die Entführer machen ihr die Zeit
nicht zu schwer. Sie muss höllisch Angst haben.«
Wir saßen eine Weile schweigend da, während wir uns
die brutale Realität von Laurens Lage vorstellten. Manche
Entführer, so wusste ich aus Presseberichten früherer Fälle,
hielten ihre Opfer unter geradezu unglaublichen Bedingungen fest, eingesperrt in luftlose, dunkle Verliese oder Keller,
wie Ganesh es eben gesagt hatte, oder schlimmer noch, in
sargähnlichen Kisten unter der Erde. Kein Wunder, dass
Szabo vor Sorge fast den Verstand verlor. Selbst wenn sie
Lauren heil und in einem Stück wieder fanden, konnte niemand absehen, welche Schäden ihre Psyche davontragen
würde.
Ich verdrängte all die grauenhaften Vorstellungen aus
meinem Kopf. Sie halfen Lauren nicht weiter, und wir sollten uns auf ihre Rettung konzentrieren, darauf und auf
nichts anderes.
Was Ganesh gesagt hatte, klang plausibel. Ich kannte Parry gut genug, um zu wissen, dass er Szabo nicht
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