Grant County 03 - Dreh dich nicht um
nicht?«
Sie bedachte ihn mit einem Blick, der alle weiteren Fragen beantwortete.
»Also gut.« Er lief weiter, und Lena folgte ihm.
Der Krach war so laut, dass Lena schauderte. Alle Lichter des Gebäudes brannten, selbst die im oberen Stockwerk, das der Aufsichtsperson vorbehalten war. Die Musik lag irgendwo zwischen Dance-Party und Acid-Jazz, durchmischt mit Rap. Lena hatte das Gefühl, von der Dezibelstärke würden ihre Ohren jeden Moment zu bluten anfangen.
»Habt ihr keine Angst, dass die Campus-Polizei anrückt?«
Ethan grinste, und Lena gab ihm kleinlaut Recht. Wenn sie morgens zur Arbeit kam, lag der Wachhabende der letzten Nacht meistens noch schnarchend auf der Pritsche im Hinterzimmer und schlief den Schlaf des Gerechten. Sie wusste, dass Fletcher heute Nacht Dienst hatte. Er war der Schlimmste von allen. In der Zeit, seit Lena hier arbeitete, hatte Fletcher nicht einen einzigen Zwischenfall gemeldet. Natürlich wurden die meisten nächtlichen Verbrechen nicht angezeigt oder blieben unter dem Mantel des Schweigens verborgen. Lena hatte in einer Broschüre gelesen, dass weniger als fünf Prozent aller Frauen, die auf einem Hochschulgelände vergewaltigt wurden, Anzeige erstatteten. Sie sah sich die Fassade des Wohnheims an und fragte sich, ob dort gerade in diesem Moment auch ein Mädchen vergewaltigt wurde.
»Hey, Green!« Ein junger Mann, der etwas größer und kräftiger als Ethan war, kam auf sie zu und schlug Ethan mit der Faust gegen die Schulter. Ethan erwiderte die Geste.
»Lena«, Ethan musste schreien, um die Musik zu übertönen, »das ist Paul.«
Lena versuchte ihr überzeugendstes Lächeln. Sie fragte sich, ob das Andy Rosens Freund war.
Paul musterte sie von oben bis unten, als würde er ihre Eignung zum Geschlechtsverkehr abwägen. Sie erwiderte den Blick und versuchte, ihm deutlich zu zeigen, dass er weit unter ihrem Niveau war. Er sah ziemlich nichtssagend aus, ein Teenager, irgendwo stecken geblieben zwischen Kind und Mann. Er trug ein gelbes Stirnband mit Mützenschirm, den er nach hinten geschoben hatte. Das kurze, blond gefärbte Haar war steil nach oben gegelt. Um den Hals hingen an einer grünen Metallkette ein Schnuller und alle möglichen anderen Amulette aus der Hello-Kitty-Kollektion. Er sah ihren Blick und schob sich laut schmatzend den Schnuller in den Mund.
»Yo«, rief Ethan und boxte mit übertriebenem Reviergehabe gegen Pauls Schulter. »Wo ist Scooter?«
»Drinnen«, sagte Paul. »Versucht wahrscheinlich, die scheiß Niggermusik abzusetzen.« Er warf sich in Pose und zappelte albern mit den Armen herum.
Lena zuckte zusammen, wollte sich jedoch nichts anmerken lassen. Anscheinend gelang ihr das nicht besonders gut, denn jetzt fragte Paul: »Hast du’s vielleicht mit den Brothers?«
»Halt’s Maul, Mann«, sagte Ethan und boxte ihm fester gegen die Schulter. Paul lachte. Er mischte sich wieder unter die Leute, die zum Waldrand gingen, und rief Lena und Ethan rassistische Parolen hinterher, bis er nicht mehr zu verstehen war.
Ethan hatte die Fäuste geballt, die Muskeln seiner Schultern zuckten unter dem T-Shirt. »Arschloch«, knurrte er.
»Beruhig dich«, sagte Lena, doch ihr Herz klopfte schneller, als Ethan sie ansah.
»Hör nicht auf ihn, okay? Er ist ein Vollidiot«, schnaubte Ethan.
»Ja«, stimmte Lena zu. Sie versuchte die Situation wieder unter Kontrolle zu bekommen. »Ja, das ist er.«
Ethan sah sie eindringlich an, als wäre ihm wichtig, dass sie ihm glaubte. Dann ging er weiter.
Die Tür des Wohnheims stand offen, ein paar Studenten unterhielten sich am Eingang. Lena konnte nicht erkennen, ob es Frauen oder Männer waren. Sie versuchte nicht hinzusehen, als sie vorbeilief. In der Luft hing ein eigentümlicher Geruch. Nach sieben Monaten am College wusste Lena, wie Haschisch roch; das hier musste etwas anderes sein.
In der Eingangshalle verband ein großes Treppenhaus alle drei Stockwerke, rechts und links gingen Flure zu den Zimmern und Waschräumen ab. Das Gebäude war genauso geschnitten wie alle anderen Wohnheime auch. Auch das Haus, in dem Lena wohnte, war fast identisch, außer dass dort jede Wohneinheit ein eigenes Bad und einen Aufenthaltsraum mit Küchenzeile hatte. Hier dagegen wurden die Studenten jeweils zu zweit in ein Zimmer gesteckt mit einem großen Gemeinschaftswaschraum am Ende des Gangs.
Je näher sie ans Ende des Flurs kamen, desto deutlicher wurde der Gestank: Es roch nach Pisse und Kotze.
»Ich muss nur mal kurz hier
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