Grappa 06 - Grappa und der Wolf
ihm her. »Erinnern Sie sich noch an mich?«
Lidor wandte sich um. »Frau Grappa! Welch nette Überraschung.«
Jetzt war ich mir endgültig sicher. Er sprach meinen Nachnamen perfekt italienisch aus, irgendwie melodisch mit einem hinreißend weichen R und einem ganz kleinen A am Schluss, der an leichtes Schluckauf erinnerte.
»Sie können gehen«, sagte Lidor zu dem jungen Mann, der ihn bis vor den Eingang geschoben hatte. »Ich habe eine Freundin getroffen, die mich begleiten wird.«
»Ich finde es nett, dass Sie mich als Freundin bezeichnen, obwohl wir uns kaum kennen.«
»Immerhin sind Sie zu meinem Vortrag gekommen«, lächelte er. »Wir sollten einen Drink zusammen nehmen und uns unterhalten«, schlug er dann vor. »Am besten in meinem Hotelzimmer. Durch die Tür, rechts zum Aufzug und dann mit dem Lift in den fünften Stock. Wenn Sie mir helfen wollen? Der Gang ist ein bisschen eng. Das Hotel ist nicht besonders behindertengerecht gebaut.«
Stumm schob ich das Gefährt Richtung Aufzug, drückte auf die 5, und ab ging's.
Das Hotelzimmer war geräumige Mittelklasse. Auf dem niedrigen Tischchen vor dem Fernseher standen Getränke und ein Obstkorb.
»In der Minibar ist Champagner«, sagte Lidor, »ich habe damit gerechnet, dass Sie kommen, wenn Sie die Ankündigung in der Zeitung lesen.«
Ich beugte mich zu dem kleinen Kühlschrank hinunter. Im Augenwinkel beobachtete ich, wie sich Max Lidor aus dem Rollstuhl in einen Sessel zog. Die Beine blieben schlaff.
Ich öffnete den Champagner und goss zwei Gläser voll.
»Auf unser Wiedersehen!«, prostete mir Lidor zu. »Und jetzt erzählen Sie, Frau Grappa. Wie ist es Ihnen in Spanien ergangen? Und vor allem – was macht Ihre spannende Story, an der Sie gearbeitet haben?«
»Die Story läuft immer noch«, erzählte ich, »und Spanien war für mich aufschlussreicher als erwartet. Und was ist mit Ihnen? Wie war Ihr Urlaub in den Bergen? Wie geht's Ihrer Frau und den lieben Kleinen?«
»Die Bergluft bekommt mir immer wieder gut.« Er schlich um den heißen Brei herum. »Meine Frau und die Kinder lieben die Berge genauso wie ich.«
Ich leerte das Champagnerglas und goss sofort nach. Der Mann ist nicht zu kriegen, dachte ich niedergeschlagen. Oder er ist wirklich ein harmloser Professor, der Wölfe nur aus dem Märchen kennt. Ich hatte keine Ahnung mehr, was ich hier noch sollte. Irgendwie musste ich noch ein bisschen Smalltalk machen, und dann nichts wie weg!
Ein Klopfen an der Tür unterbrach meine Fluchtfantasien.
»Zimmerservice!«, sagte eine Männerstimme.
»Hotelangestellte glauben immer, dass ein Rollstuhlfahrer besondere Betreuung braucht«, seufzte Lidor. »Würden Sie die Tür bitte öffnen?«
Als ich im Türrahmen vor dem Mann stand, der hineingelassen werden wollte, spürte ich einen harten Gegenstand in meiner Magengrube. Ich hob den Kopf und sah in das markante Gesicht von Urs Stäubli.
»Guten Tag«, sagte der Schweizer mit deutschem Pass. »Ich möchte nur sehen, ob alles in Ordnung ist.«
Er war schneller
Der Gegenstand in meiner Magengrube war ein Schießeisen. Völlig überrascht stolperte ich rückwärts in das Zimmer zurück. Es war keine Zeit mehr, Max Lidor zu warnen.
»Wo ist er?« Stäubli sah an mir vorbei ins Zimmer. Der Sessel, auf dem der Wolf noch eben mit gelähmten Beinen gesessen hatte, war leer.
»Keine Ahnung«, stammelte ich. Stäubli gab mir einen Stoß, ich taumelte gegen den Kühlschrank. Die Flaschen klirrten. »Sie rühren sich nicht vom Fleck«, befahl er, »sonst …«
Der bringt mich sowieso um, dachte ich, nachdem er Lidor erledigt hat. Stäubli hatte sich zur Tür des Badezimmers geschlichen, die Pistole schussbereit in der Hand. Wenn Lidor da drin ist, hat er keine Chance zu entkommen, ging es mir durch den Kopf, und danach bin ich dran.
Plötzlich sah ich einen Arm mit einem Revolver zwischen Fußboden und unterem Ende der Tagesdecke, die auf dem Bett lag, hervorschnellen, hörte ein dumpfes Plopp. Stäubli war nach hinten über gefallen.
»Ist er tot?«, stotterte ich.
»Natürlich«, meinte Lidor. »Oder glauben Sie, ich treffe auf diese Entfernung daneben?« Er war inzwischen unter dem Bett hervorgekrochen, hatte sich mit einem fachmännischen Blick davon überzeugt, dass Stäubli den Löffel auch wirklich abgegeben hatte, und sich wieder in den Sessel gesetzt.
»Tut mir leid, Frau Grappa«, entschuldigte er sich, »normalerweise übe ich meinen Job in aufrechter Haltung aus. Aber die Situation
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