Grappa dreht durch
ihn eigentlich vom Dach gestoßen?«
Die Konversation war schlagartig verstummt. Rosi Ritzenbaum war weiß wie die Kalkwand hinter ihr, BIG Boss hatte einen stummen Protest auf den Lippen, und Elvis Wüsten starrte Masuls Witwe an.
»Kommen Sie, Frau Masul!« Ich schob Rita schnell auf den Flur. Sie verschwand.
Als ich mich umsah, bemerkte ich, daß Rudi Mühlen und Bettina Blasius inzwischen gekommen waren. Das Team der Firma »Teleboss« war komplett, um mich in seiner Runde willkommen zu heißen! Doch die Stimmung war durch Ritas Auftritt zunächst im Eimer.
»Frau Masul ist ganz schön fertig!« stellte ich fest. »Wieso glaubt sie, daß ihr Mann ermordet worden ist?« Meine Frage war schiere Naivität.
Alle schauten zu BIG Boss. Er hustete ein paar Mal und sagte dann: »Ich kann diesen Vorwurf nur so interpretieren, daß Frau Masul noch voller Trauer ist. Trauer macht ungerecht. Natürlich hat niemand von uns Herrn Masul ermordet.«
Seine Stimme lachte, doch in seinen Augen lag Angst. Elvis Wüsten verzog die vollen Lippen zu einem hämischen Grinsen. Rosemarie Ritzenbaum schneuzte sich geräuschvoll in ein weißes Batisttaschentuch.
85 Es lebe das gute Betriebsklima!
Rudi Mühlens Haar war ein Fall aus der Mikrowelle, sein Blick hatte die Ausstrahlung einer Selbstbedienungstanksäule, sein Lächeln erinnerte an den Einführschlitz eines EC-Geldautomaten.
Stand er jedoch geschminkt vor der Kamera, war er ein Ausbund an Charme und Sympathie. Der Mann trieb die Einschaltquoten in die Höhe. Er war noch jung genug, um Frauen um die Zwanzig anzusprechen, und schon alt genug, um Frauen im Klimakterium an die wilden Nächte der 68er zu erinnern.
Er las den Wetterbericht mit drei Wochen Dauerregen genauso hinreißend vor, wie er allabendlich in seiner »Sandmännchen-Show« die Kleinen vor der Glotze ultimativ aufforderte, dem Gedanken ans Zubettgehen näherzutreten.
Außer Dienst war er ewig kränkelnd, nörgelnd und übertrieben eitel. Er hatte hängende Schultern, ein Hohlkreuz und lief über den dicken Onkel.
Rudi Mühlen hatte ein Hobby, das alle fürchteten. Er erzählte gern Krankheitsgeschichten. Nicht nur die eigenen, sondern auch die seiner Verwandten und Bekannten.
Mich erwischte die Geschichte seines armen, alten Vaters, der in einem Bierstädter Krankenhaus sozusagen zu Tode gefoltert worden war. Mühlen senior sollte duschen, und die Krankenschwester setzte den Gehbehinderten unter den Wasserstrahl. Dann drehte sie das heiße Wasser auf und ging weg. Der alte Mann verbrühte sich und starb an einem Schock.
Ich sagte »Oh« und »Wie schrecklich« und rückte einen Meter von ihm ab. Doch Rudi Mühlen verfolgte mich. Die Story eines taubeneigroßen Geschwürs unter seiner rechten Achselhöhle ging nahtlos in die Komplikationen über, die seine Gattin mit einer frisch vernarbten Operationswunde hatte erdulden müssen.
Der Höhepunkt seiner Klinikpoesie war die Ankündigung seines Hausarztes, ihm die chronischen Hämorrhoiden so bald wie möglich operieren zu wollen. Ich hatte mir gerade eine Oli-
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ve in den Mund geschoben. Nur mit Mühe bekam ich sie runter.
Es war genug. Ich ließ ihn einfach stehen.
»Nun, sind Sie ihm entkommen?« sagte eine Stimme hinter mir. Es war Bettina Blasius, die Volontärin. Sie war ein junges, hübsches, dralles Kind mit einem großen Busen, den sie nicht unter einem weiten Pullover verbarg. Ihrer saß hauteng. Die Haare hatten Drahtbürstenstruktur und standen fröhlich in die Höhe. Eine grüne Haarsträhne fiel in die Stirn.
»Schrecklich dieser Rudi Mühlen«, stöhnte ich, »seine Schauermärchen verderben einem den Appetit. Erzählt er Ihnen etwa auch diesen Krankheitskram?«
»Oft und gerne. Wir haben die meisten Sachen schon hinter uns. Aber das schützt uns nicht, denn er erzählt sie immer wieder und reichert sie mit brandneuen Details an. Krankheiten haben ja die Angewohnheit, sich weiter zu entwickeln. Kennen Sie schon die Geschichte von dem künstlichen Darmausgangs seines Cousins?«
Ich prustete los. Bettina Blasius lachte mit. Ich mochte sie auf Anhieb. Sie war direkt und hatte Humor.
Wir setzten uns in eine Ecke. »Kannten Sie eigentlich meinen Vorgänger gut? Diesen Masul?« fragte ich leise.
»Natürlich. Ich mochte ihn. Er war der einzig nette Mann hier«, stellte sie fest. In ihrer Stimme lag Bedauern. »Ausnahmsweise mal einer ohne Macke.«
»Wie meinen Sie das?«
»Gucken Sie sich doch dieses Gruselkabinett hier an! Zum
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