Grass, Guenter
noch ruft er aus dem nahen Erlengebüsch. Jetzt setzt
ein zweiter ein, weiter weg. Vermutlich gaukt er aus den hängenden Zweigen der
Trauerweide am Ufer jenseits der Rousseauinsel. Nicht um den einen abzulösen,
ruft der andere. Sie überbieten sich, wollen gewinnen, rufen um die Wette. Ich
zähle nicht mit. Sollen sie gauken und gäuchen; mir wird die Zeit knapp.
Vorgriff
aufs Z: zu seiner, zu meiner. Aber gibt es die Zeit? Ist sie, weil meßbar, auch
wirklich? Hilft sie nicht vielmehr als Krücke, an der wir Halt finden,
unterwegs im Nebel der Zeitlosigkeit?
Chronik
sagen wir und reihen Daten, behelfen uns mit Sekunden, Minuten, zählen Stunden,
Tage, Monate, sagen sogar der Natur Jahreszeiten nach, rufen: Kinder, es ist
Zeit, schlafen zu gehen.
Sie
sich vertreiben, sie verleben, sie überstehn, sie verschwenden, mit ihr geizen,
als könne sie Zinsen einbringen. Wir wickeln die Köpfe frischgefangener Heringe
als Abfall in Zeitungspapier von vorvorgestern; alles währt seine Zeit.
Sie
totschlagen, sie verspielen,
einerseits
zeitlos, andererseits zeitgemäß sein.
Wenn
ich als Knabe in hallender Kirche sang:
»Wie
du warst vor aller Zeit, so bleibst du in Ewigkeit«,
glaubte
ich felsenfest,
diese
Zeitspanne einzig auf mich beziehen zu dürfen;
dabei
war nur Liebgottchens Zeit gemeint.
Zeitumstände
und Zeitabschnitte.
Schön
blüht die Herbstzeitlose.
Gezeiten
wie Machtwechsel:
nach
Mommsens römischer Geschichte
kamen
die Herrscher überein,
eine
zeitweilige Diktatur eintreten zu lassen.
Viele
meiner Zeitgenossen zeitigten vorzeitig ihre Zeit.
Und
jederzeit lärmte der Zeitgeist.
Hört nur, hört: aus jeder Richtung
spotten Kuckucksrufe der Zeit.
Endlich
schweigt er. Bevor plötzlich eingeräumte Stille dem gegenwärtigen Geschnatter
weichen muß, frage ich mich vorbeugend schnell: Wie verhielt sich Salomon
Hirzel, als es keinen Jacob Grimm mehr gab? Wie verlief die Geschichte seines
Verlages von seinem Jahrhundert ins nächste? Kann eine gradlinige Chronik dem
folgen? Was geschah zwischen den Bänden zu diesem und jenem Buchstaben; während
die Durststrecken, das G betreffend, länger und länger wurden? Wer kümmerte
sich um das übersprungene H, das I und das J, wer fand Zitate zum Haß, Herz,
Hohn, zum Humor, zur Idee und zum Irrsinn, zur Jauche, dem Jähzorn? Und wen
bestimmte Salomon Hirzel zum Nachfolger der Grimmbrüder?
Da
mit ihrem Tod der Briefwechsel mit dem Verleger abriß und Herman, Wilhelms
Sohn, brieflich wenig zu sagen wußte, muß, um von Hirzeis Bedeutung ein Bild zu
gewinnen, auf Jacobs Vorwort im ersten Band des Wörterbuchs zurückgegriffen
werden. Dort preist er ihn als einzigartiges Beispiel »aufopfernder
anhänglichkeit«. Dem folgt: »er liest jeden bogen vor dem abdruck durch, und
seine Vertrautheit mit der spräche und den dichtem, zumal aber, wie man weisz,
mit göthe, flöszt ihm lauter feine bemerkungen ein. kann der Verfasser sich
eine günstigere läge wünschen?«
Ähnlich
urteilt Karl Weigand, dessen gelegentlich lautwerdenden Judenhaß Hirzel
vermutlich überhört oder als zeittypische Marotte abzutun versucht hat. Ihm
wurde neben Hildebrand - kaum hatte sich Jacob mit dem Stichwort Frucht
verabschiedet - die Fortsetzung des Wörterbuchs übertragen. Er nennt Salomon
Hirzel »einen Buchhändler im großen Stile«.
Wie
aber sehe ich meine Verleger, denn im Verlauf der Jahre blieb es bei einem
nicht?
Mein
erster, Eduard Reifferscheid, stand dem Luchterhand Verlag vor, deutlicher, er
besaß ihn als Haupteigner. »Ein Sachse mehr, der die Welt verplaudert«, schrieb
ich in einem Gedicht als lobpreisenden Beitrag zu einem seiner runden
Geburtstage. Denn ein Plauderer, der in Fontanes Romanen hätte Figur machen
können, war er, besonders in seinen Briefen, die jedes mit jedem verknüpften
und noch der schrumpligsten Backpflaume Geschmack abgewannen. Ein überall
rundlicher Gönner, Genießer, der sein Geld mit Loseblattkommentaren zu
neuerlassenen Gesetzen und juristischen Standardwerken verdiente; mithin ein
begnadeter Geschäftsmann. Die Literatur war das gehätschelte Kind seiner
Liebhaberei, von dem er nicht lassen wollte, um keinen Preis, denn meistens
zahlte er drauf, doch nicht, als ich nach einem Lyrikbändchen, das naturgemäß
so gut wie nichts einbrachte, seinen Umsatz mit Romanen steigerte.
Er
genoß die Erfolge seines Autors, hielt sich jedoch im Hintergrund, mied
Buchmessen, trug, wenn er sein tägliches Pensum zu Fuß unterwegs war,
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