Grass, Guenter
hundertfünfzig Jahre später, also zur Currywurst-Zeit, im Tiergarten
als Chronist zunehmender Collateralschäden unterwegs war. Zwar nicht im
Grimmschen Sinne auf Wörtersuche, doch auf den Spuren Fontanes, dem alles
Colossale zuwider gewesen war.
Oder
lief ich mir selbst hinterdrein? Wie stets auf rückläufigen Wegen? Wie dazumal
ihm, der den Brüdern Grimm während späterer Jahre nahe der Rousseauinsel
begegnet sein mag, ging es jetzt mir um die fehlende Einheit des Vaterlandes,
an der zu leiden deutsches Vorrecht bleibt: zu Grimms und Fontanes, so zu
meiner Zeit, als nach dem Fall der Mauer und kurz aufschäumendem Jubel nur noch
das Geld herrschte und sich die Raffgier des Westens der Treuhand bediente.
Wie
sich die Zeiten ablagern und durchsuppen. In jedem Danach liegt ein Davor
begraben. So zukunftsfern sehe ich mich auf Motivsuche von der Leipziger Straße
quer über die bereits an Concerne verhökerte Wildnis des Potsdamer Platzes,
dann auf Umwegen durch den Tiergarten bis hin zur Siegessäule, die es zu Zeiten
der Grimms noch nicht gab.
Mich
treibt Zorn an, der sich an westlichen Colonialherren reibt, die als Sieger des
Kalten Krieges meinen, hemmungslos zugreifen, fortan auf Pump leben zu dürfen
und nun, nach dem Triumph des Kapitalismus über den Kommunismus, beginnen,
ihresgleichen zu zerstören, weil ihnen der Feind fehlt.
Nicht
viel anderes sieht er, der bereits betagte und nunmehr in Romanen gesprächige
Theodor Fontane, dem ich im Tiergarten in Gestalt seines Wiedergängers Fonty zu
begegnen hoffe. Er hat, durch hugenottisches Herkommen gefördert, in der
Stillage des Causeurs sein romantaugliches
Personal
gefunden, zum Beispiel die Treibeis, Jenny voran, deren neureiches Gehabe
schnellen Gewinn und Zukunft verspricht. Ich hingegen bin noch auf Suche und
sehe mich rückläufig »Ein weites Feld« abschreiten, während der Westen den
Osten bereits zu schlucken beginnt.
Zur
Zeit der Brüder Grimm jedoch blieb die Misere constant und konnte die Einheit
des Vaterlandes allenfalls als etwas confus Unbestimmtes besungen werden.
Wollten die einen sie großdeutsch mit Osterreich verklammert sehen, setzten die
anderen auf den kleindeutschen, von Preußen dominierten Verbund.
Bettine
wünschte sich nach dem Vorbild der französischen Revolution des Jahres dreißig
einen Volkskönig, den sie gleichwohl romantisch verklärt sah. Jener vierte
Friedrich Wilhelm sollte es sein, dem sie ihr Buch gewidmet, sozusagen ans
Herz gelegt hatte. Doch Preußens König blätterte kaum darin. Unberührt blieb er
oder wird sich verwundert haben, daß seine Censurbehörde den im Schlußteil des
Buches zum Himmel schreienden Armutsbericht, der das Elend vorm Hamburger Tor
documentierte, hatte passieren lassen. Was kümmerte ihn die Not der brotlosen
Weber!
Er
sah sich von Gottes Gnaden berufen. Den Brüdern Grimm hingegen schwebte, bei
aller erklärten Freiheitsliebe, eine durch Verfassungsrecht gezähmte
Fürstenherrschaft vor. Weder wollten sie sich mit den Liberalen gemein machen,
denen mit der ersehnten Einheit des Vaterlandes die Gewerbe- und
Handelsfreiheit immer wichtiger wurde, noch mit Democraten, die jegliches
Fürstentum abschaffen wollten. Ganz zu schweigen von den frühen Socialisten,
die schrecklich-schöne Utopien in Umlauf brachten.
Das
alles kam während vorrevolutionärer Zeit eher halblaut, weil gehemmt durch
Censur unter die Leute. Besonders litten Buchhändler und Dichter unter der,
nach kurzer Phase gemäßigter Praxis, nun wieder streng prüfenden Behörde. Wie
Georg Herwegh konnte Heinrich Heine ein Lied davon singen. Beide lebten im
Exil.
Ähnlich
der Literaturwissenschaftler, Bibliothekskustos und Professor August Heinrich
Hoffmann, der sich, wie manche spotteten, adelssüchtig oder auf Abstand zum
Hoffmann des »Struwwelpeter« bedacht, nach seinem Geburtsort nahe Braunschweig
von Fallersleben nannte. Er geriet mit seinen freiheitlich-patriotischen
»Unpolitischen Liedern« in Bedrängnis und mußte in Breslau den Lehrstuhl
räumen. Sogleich des Landes verwiesen, hielt er sich mal hier und mal da auf
und führte, wie es in Spitzelberichten hieß, ein »unstetes Leben«. Doch vor
seiner anhaltenden Flucht suchte er auf der Nordseeinsel Helgoland Quartier und
schrieb dort im Jahr 1841 ein dreistrophiges Lied, das er »Lied der Deutschen«
nannte. Sein Verleger Campe, der auch Heine verlegte, zahlte ihm dafür vier
Louisdor. Obgleich er Fallersleben als eher mäßigen Poeten einschätzte,
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