Grass, Guenter
der Verräter
und Censor, aufgefordert wurde, das Theater zu verlassen. Ein Großteil des
Publikums klatschte Beifall.
Was
sich einprägt. Die Cäsur als Kerbe im Gedächtnis. Der lähmende Choc. Immerhin
gelang es mir, nicht stumm zu bleiben. Anna und ich weigerten uns, die Plätze
zu räumen, uns davonzuschleichen. Ich stand auf und redete, bevor das Ensemble
die Spielfläche verlassen konnte, laut gegenan, indem ich Stein und sein
Gefolge sowie das claqueurhaft reagierende Publikum daran erinnerte, daß im
Jahr dreiunddreißig kenntlich gemachte Personen in Berliner Theatern
aufgefordert wurden, sofort und für immer zu verschwinden.
Wiederum
klatschte ein Großteil des Publikums erschreckend einmütig. Endlich begann die
Aufführung von »Peer Gynt«; die war sehenswert, wie manche Inszenierung des
frühen Regietheaters.
Viele
Jahre später, und nachdem ich mich oft genug gefragt hatte: wäre es nicht
klüger, mithin opportun und dem Zeitgeist entsprechend conform gewesen, die
Abschußlisten zu übersehen oder als üblichen Theaterdonner zu werten, saß ich
mit Heinar Kipphardt in Ostberlin an einem Tisch. Beide waren wir Teilnehmer
einer Begegnung, zu der der Schriftsteller Stephan Hermlin eingeladen hatte und
in deren Verlauf ost- und westdeutsche Autoren gegen die in beiden Staaten
beginnende Stationierung von Mittelstreckenraketen mit atomaren Sprengköpfen
protestierten. Nach sowjetischer Machart hießen sie SS-20, nach US-amerikanischer
Pershingll. Kipphardt und ich - diesmal einig in der Sache - redeten nur wenige
Worte miteinander, weiß nicht mehr welche.
Während
dieser Zeit, in der das Wettrüsten der Atommächte jeglichen Credit auf die
Zukunft mit Milliardensummen verschwendete und sich militärische Vernunft hier
wie dort einredete, so, nur so könne die jeweils andere Macht gezwungen werden,
sich totzurüsten, während einer Zeit also, gegen deren kalkulierten Wahnsinn
ich den Roman »Die Rättin« schrieb, in dessen Erzählgefälle Ratten das Wort
haben und nur der Population dieser Nagetiere das Überleben nach dem TagX
garantiert ist, waren Tausende - jung und alt - bereit, der Hybris der
Großmächte zu widerstehen, zum Beispiel dort, wo die US-Army ihre Pershingll
stationiert hatte, nahe dem schwäbischen Städtchen Mutlangen.
Ute
und ich reisten an. Weil man sich von der Teilnahme Prominenter, Promis
genannt, mehr öffentliche Aufmerksamkeit versprach, waren auch Heinrich Boll und Walter Jens dabei. In Zeltlagern wurden wir Gruppen mit märchenhaft
klingenden Namen zugeteilt. Unsere Gruppe hieß »Waisenkinder«. In ihr
versammelten sich junge Leute, die während Wochen die gewaltlose Blockade des
Raketenstützpunktes geübt hatten. Nun aber war man ratlos, weil die Polizei
sich schlau weigerte, die Blockierer wegzuräumen. Deshalb suchte die
Waisenkindergruppe in endlosem Gespräch - Gewalt provozieren oder gewaltfrei
bleiben? - am nachmittäglichen Kaffeetisch und unter freiem Himmel den
Consens.
Überhaupt
war das Wort Consens im Schwange. Unermüdlich blieb man den langen Tisch lang
bemüht, Consens zu suchen, zu finden. Prinzipiell hatte jeder Conflict
consenstauglich zu sein. Wer nicht consensfähig war, wurde gerügt. Streng mit
Fingerzeig.
So
geschah mir, als ich aus alberner Laune einen Scherz wagte und für meinen
schwarzen Kaffee die entfernt stehende Dose Condensmilch erbat, diese aber
allzu betont Consensmilch nannte.
Danach
traf mich abstrafendes Schweigen. Niemand war bereit, einen blödelnden Witz zu
ertragen. Todernst ging es zu beim Consensfinden der Waisenkinder.
Erst
als ich nachts und bei Dauerregen in einem extra errichteten Lesezelt aus
Christa Wolfs Roman »Kassandra« ein zwei Kapitel vorlas, fand ich geneigte
Zuhörer, die bis Mitternacht, während es regnete, regnete, einer Erzählung
folgten, in deren Verlauf eine Frau bestraft wird, weil sie der Zukunft nur
schlimme Nachricht absehen kann und eher bereit ist zu sterben, als sich, im
Sinne ihrer Richter, consensfähig zu zeigen.
Wedernoch!
Nicht der Consens und schon gar nicht Cassandra sind im Grimmschen Wörterbuch
unter C zu finden. Verständlicherweise auch nicht Calcutta, jene exemplarische
Stadt, in der Ute und ich, nachdem mein Roman »Die Rättin« vom Chor der
Critiker wie vormals Cassandra abgestraft worden war, ein halbes Jahr lang zu
Einsichten fanden, die so verstörend waren, daß kein Consens sie beschwichtigen
konnte.
In
Calcuttas Slumvierteln verkörpert die Göttin Kali das
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