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Grass, Guenter

Grass, Guenter

Titel: Grass, Guenter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Grimms Woerter
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Charaktermaske ein geläufiges Schimpfwort, wie Cochon und Canaille zu
Grimms Zeiten. Zwar wird es im Wörterbuch nach Jean Paul zitiert, der »das
gesicht oder das äuszere, diese charactermaske des verborgenen ich« nennt, aber
im Theaterstück »Der Dra-Dra« hatten Charaktermasken nach dem Willen der Regie
als Drachen zu gelten; im Programmheft als solche aufgelistet, wurden sie
kenntlich gemacht.
    Zu
oft hatte ich dieses Wort skandiert gehört. In Nürnberg zum Beispiel, als zum
Parteitag der Sozialdemokraten deren Dreigestirn Brandt, Wehner, Schmidt vor
dem Eingang zu den Tagungsräumen von einer geballten Horde als Charaktermasken
beschimpft wurde. Dem Genossen Wischnewski, ein Sozi mit Ecken und Kanten,
schrie jemand, der weißnichtwas zu studieren begonnen hatte, »du Arbeiterverräter!«
ins Gesicht, worauf Wischnewski, der seiner Kontakte zu Arabern wegen
parteiintern »Ben Wisch« genannt wurde, »Sie, bitte!« erwiderte. Sein Wunsch
nach höflichem Umgang, selbst beim Ausruf eines althergebrachten Schimpfwortes,
machte den Ankläger sprachlos.
    Auf
die paßbildgroßen Fotos jedoch, die im Programmheft der Münchener Kammerspiele
veröffentlicht werden sollten, mußte andere Antwort gefunden werden.
     
    Im
April und im Mai einundsiebzig schrieb ich zwei Artikel, die unter den Titeln
»Abschußlisten« und »Beim Kappenzählen« in der »Süddeutschen Zeitung« zu lesen
standen. Nicht gegen das Drachentöterstück schrieb ich an - das versprach
Kunst und durfte alles -, wohl aber gegen die Reihung von fotografierten
Personen, die als gegenwärtige Drachen auf einer Abschußliste zur Zielscheibe
wurden für eine Gewalt, die bislang nur in Sprechchören und an Ausrufezeichen
reichen Proklamationen laut geworden war.
    Verantwortlich
für das Programmheft und dessen geplante Veröffentlichung zeichnete als
Dramaturg der Schriftsteller Heinar Kipphardt. Im ersten Artikel erinnerte ich
ihn an die Praxis rechtsradikaler Zeitungen sowie an die Methoden der
Springer-Presse, den politischen Gegner als Feind zu diffamieren: »Heinar
Kipphardt muß wissen, in welche Gesellschaft er gerät, sobald ihm das Aufsetzen
von Abschußlisten keine Bedenken bereitet. Die in Biermanns Parabelstück
verankerte Aufforderung, den Drachen, wie immer er sich verkleiden mag, zu
töten, ist Bühnenwirklichkeit. Das namentliche und bildkräftige Aufführen von
Personen als abschußreife Drachen jedoch setzt schlimmste deutsche Tradition
fort: Hetze, die zum Mord führen kann.«
    Daraufhin
erschien das Programmheft ohne Abschußlisten, doch mit einem beinahe leeren
Blatt, weil der Dramaturg Kipphardt nicht auf den Hinweis verzichten wollte:
»Aus rechtlichen Gründen konnten die für diese Seite vorgesehenen Bilder von
Drachen aus Politik und Wirtschaft leider nicht abgedruckt werden.«
    Eigentlich
hätte damit die Posse beendet sein können, doch der Oberbürgermeister der Stadt
München, Hans-Jochen Vogel, der gleichfalls zu den Drachen hätte gezählt werden
sollen, entließ den Dramaturgen, weil das sich närrisch gebende Spiel
tödlichen Ernst zu erkennen gab; und wenige Jahre später wurden Personen, die
als Drachen zu gelten hatten und Ponto, Schleyer, Buback, Herrhausen hießen,
von Kriminellen, die sich Rote Armee Fraktion nannten, liquidiert.
    Als
wäre diese Mordserie vorzuahnen gewesen, schrieb ich in meinem zweiten Artikel:
»Ich dramatisiere nicht. Ich sehe, wie Aufrufe zur Gewalttätigkeit und die
Gewalttätigkeit gesellschaftsfähig zu werden beginnen. Auch warne ich nicht
mehr: Die Narren könnten überhand nehmen; vielmehr stelle ich fest: Die Narren
nehmen überhand. Neuerdings linksradikale Narren, die den rechtsradikalen Narren
die Schelle gestohlen haben.«
    Das
hatte Folgen. Viele, die sich für linksstehend hielten, solidarisierten sich in
Aufrufen mit Kipphardt und nannten mich einen Verräter. Man sah mich als
Censor. Mit Fingern wurde auf mich gezeigt. Freunde nahmen Abstand. Und als ich
mit meiner Frau Anna in Steins Schaubühne am Halleschen Ufer die »Peer
Gynt«-Aufführung sehen wollte, zögerte sich der Spielbeginn auffällig hin. Dann
aber begann kein inspiriertes Regietheater, vielmehr füllte sich die weit in
den Zuschauerraum erweiterte Spielfläche mit Schauspielern, Bühnenarbeitern,
Beleuchtern, den Garderobefrauen; auch die Dramaturgie und der Theaterleiter
Stein zeigten sich. Und einer der Schauspieler las vom Blatt und wie geprobt
einen vorbereiteten Text, nach dessen deklamiertem Wortlaut ich,

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