Grass, Guenter
Friedstück mußte ein Setzer den immer
noch kranken Korrektor ersetzen. Den Juni über, der verregnet war, weilte
Hirzel in der Schweiz, wo es Geschäfte zu regeln gab. Auch dort regnete es
immerfort. Nachdem eine Lieferung auf dem Postweg verlorengegangen zu sein
schien, fand der Verleger bei seiner Rückkehr weitere Bögen, abschließend mit
fromm.
Da
Jacobs Schwägerin wieder einmal kränkelte, mußte die Reise in die erholsame
Sommerfrische verschoben werden. In einem Nachtrag lieferte er Belege zum
Stichwort Frevel und bat um weitere Korrekturbögen.
Inzwischen
hatte sich der verloren geglaubte Bogen gefunden. Und Anfang August 1863 lagen
die Belegexemplare der ersten Lieferung des vierten Bandes vor; es sollte die
letzte sein, die Jacob Grimm vollenden konnte.
Danach
geht es bergab. Er fährt nun doch mit Wilhelms Witwe und Tochter für mehrere
Wochen in die Ferien, kommt Anfang September aus dem Kurort Suderode zurück und
wird wenige Tage später von einem Gallenfieber befallen. Blutegel werden
angesetzt. Aber das Fieber will nicht sinken. Seiner Nichte Auguste diktiert er
einen letzten Brief an Hirzel in die Feder, in dem er die abermalige Verschleppung
der Arbeit am Wörterbuch bedauert. Auch tue es ihm leid, daß aus der Reise nach
Meißen und weiter nach München zu den Philologen und Historikern nichts werden
könne. Er, der sein Leben lang gerne auf Reise ging, doch aus der Ferne
Sehnsucht nach Hessens Wäldern empfand, wollte noch einmal...
Plötzlich
scheint Besserung einzutreten. Das sagen die Ärzte. Er ißt mit Appetit, steht
auf, zieht Bücher aus Regalen, blättert darin, stellt zurück, sitzt farbig
gekleidet am Schreibtisch, füllt Zettel mit kratzender Feder, kramt im
Zettelkasten, ist wenige Tage lang fleißig, bis ihm ein Schlagfluß die rechte
Seite lähmt.
Am
Abend des 20. September hört er zu atmen auf. Neben seinem Bruder wird er
begraben. Zwischen Trauergästen bin ich dabei und sehe voraus, wie schon auf
Wilhelms Grabstein wird auch auf seinem schlicht zu lesen sein: »Hier liegt
Jacob Grimm.«
Bis
zum Schluß hat er am Buchstaben F gearbeitet. Dabei kam er zum Stichwort Frucht,
einem aus dem Lateinischen entlehnten Wort, das althochdeutsch fruht lautete,
im Plural frühte. Bald aber ist es die Frucht des Baumes, sind es Feldfrüchte,
die er sammelte. Und wie einst, zitiert aus Parzival, »ein muoter ir fruht
gebirt«, so zielte man später auf des Feindes Nachkommen: »an ihren fruchten
sollt ihr sie erkennen...«
Reife,
faule, fallende.
Immer
bedroht vom Anflug der Fruchtfliege.
Früchte,
die vom Himmel fallen,
die
Himmelsfrucht, und Lesefrüchte, zu Zitaten geschrumpft.
Schiller
sah goldene Früchte glühen,
Gottsched
sprach von den Früchten des Glaubens,
Uhland
bat: »laß mich genießen meiner arbeit frucht.«
Gebenedeit,
hörte Maria, sei die Frucht deines Leibes.
Dennoch
schnitten Söldner, wie Gryphius verbürgt,
inmitten
des dreißig Jahre währenden Krieges
ungeborene
Frucht aus schwanger gerundetem Bauch.
So
geschah Fürchterliches wieder und wieder,
doch
vergebens riefen die Mahner: der Schoß ist fruchtbar noch ...
Und
Ceres, die Fruchtgöttin weinte,
als
Felder verwüstet wurden, Fruchtfolge ausblieb.
Und
was noch Folgen hatte,
weil
sich auf jedem der schutzverheißenden Gipfel
der
Herren Gerede als fruchtlos erwies.
Schon
begann die eine, die nächste Fruit-Company,
genveränderte
Frucht anzubauen:
verbotene
Frucht, die Früchte des Zorns.
Von
keinem Leichenschmaus wird berichtet. Nach Jacobs Tod gab Wilhelms Witwe die
Wohnung in der Linkstraße auf. Beide Gelehrtenstuben entleert. Wer erbte die
Federkiele, wer die Stahlfeder? Was geschah mit den vieltausend Büchern, den
Zettelkästen?
Dorothea
Grimm, geborene Wild, starb nach wenigen Jahren. Sie durfte oder wollte nicht
liegen, wo die Brüder lagen. Die Tochter Auguste blieb unverheiratet, desgleichen
der als Jurist tätige Sohn Rudolf. Da aus der Ehe des Kunsthistorikers und
Philologen Herman mit Bettines Tochter Gisela keine Kinder hervorgingen, kam
der Nachlaß der Brüder Grimm nach und nach an den preußischen Staat.
Herman
hat später die Arbeit am Wörterbuch als wissenschaftlich überholt abgetan,
bedürftig gründlicher Neufassung. Man belächelte den vergeblichen Fleiß. Nicht
aufhören wollte die Mäkelei. Dem Berliner Tiergarten jedoch wird mit seinem
dem Alphabet folgsamen Baumbestand, vom Ahorn bis zur Zypresse, der Lustwandler
Jacob und dessen Bruder gefehlt haben. So
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