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Grau - ein Eddie Russett-Roman

Grau - ein Eddie Russett-Roman

Titel: Grau - ein Eddie Russett-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eichborn-Verlag
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nicht, wie ich ihnen aus dem Weg gehen sollte. Ich konnte nur hoffen, dass Courtland sich einbildete, ich sei so verschreckt, dass ich für immer meinen Mund halten würde. Leider hatte er in einem Punkt recht, und das hatte er mir unmissverständlich klargemacht – ich konnte nichts beweisen. Gar nichts. Ich hatte noch nicht mal ein Motiv. Es ergab alles keinen Sinn! Gelbe töten keine Gelben. Sie unterstützen sie, sie ernähren sie, und falls nötig, lügen sie für sie.
    Ich holte tief Luft, stand auf und starrte mein Spiegelbild an, dann manövrierte ich den Lichtreflektor in Position, damit ich mir meine Augen genauer anschauen konnte. Preston hatte mich gewarnt, die Schwefels würden mir Hindernisse in den Weg stellen, aber seine Bemerkung, so hilfreich sie war, hatte mich auf einen ganz anderen Gedanken gebracht. In der Nacht, als Travis abging, war ich über eine Schubkarre gestolpert – weil sie mir jemand in den Weg gestellt hatte. Und mehr noch: Er hatte es im Schutz der Dunkelheit getan.
    Mein Mentor Greg Scarlet hatte mal von der theoretischen Möglichkeit gesprochen, bei Nacht sehen zu können, und obwohl es ein ganz interessanter Ansatz war, hatte ich mich nie groß damit beschäftigt. Die Nacht, das war einfach nur die Nacht, mehr nicht, eine leere Zeit, ein Loch im Leben. Nichts passierte, nichts rührte sich. Eine Zeit der Sicherheit, eine Zeit für zu Hause.
    Ich sah mir die Eingangsöffnung meiner Augen genauer an. Sie war, grob geschätzt, anderthalb Millimeter im Durchmesser. Viel Licht konnte also nicht einfallen, weswegen wir alle bei hellem Sonnenschein am besten sahen. Die Tatsache nun, dass die Pupille von einem großen Feld umgeben war, legte nahe, so Greg Scarlets Schlussfolgerung, dass ein größeres Eintrittsloch physisch durchaus möglich wäre. Und aus meinen Grundkenntnissen der Fotografie wusste ich: größeres Loch, mehr Licht, mehr Sicht im Halbdunkel.
    Es waren nicht allein Mutmaßungen, die einen auf diesen Gedanken bringen konnten. Viele der Einstigen, die auf prä-Epiphanischen Fotos dargestellt sind, haben diese seltsamen, weiten Pupillen, den hohläugigen Blick , und dass sie bei Nacht leidlich gut sehen konnten, war so gut wie unbestritten. Die Unmengen optischer Hilfsmittel, die man ausgegraben hatte, legten jedoch den Verdacht nahe, dass ihre relative Nachtsichtigkeit zum großen Teil zu Lasten der Sehschärfe ging. Bis jetzt hatte ich immer geglaubt, bei Nacht sehen zu können sei eine verloren gegangene Fähigkeit, so wie Speedskating oder Cha-Cha, aber das stimmte nicht. In der Nacht, als ich versucht hatte, Travis zu retten, hatte mich jemand beobachtet und mir eine Schubkarre in den Weg gestellt, um zu testen, ob ich darüber stolpern würde. Dies ließ nur eine mögliche Schlussfolgerung zu: Im Dorf gab es jemanden, der bei Nacht sehen konnte .
    »Eddie?«
    Es war der Colormann, und ich zuckte schuldbewusst zusammen.
    »Oh, Entschuldigung«, sagte er. »Warum singen Sie auch nicht ›Misty Blue‹, wenn Sie Ihr Dingsbums machen. Sie kennen doch die Konvention.«
    »Ich habe gar nicht mein Dingsbums gemacht. Ich habe mich im Spiegel betrachtet.«
    »Eitelkeit ist etwas Abscheuliches, Edward.«
    »Ich habe mir meine Augen angeschaut.«
    Eine gewisse Unsicherheit muss aus meiner Stimme gesprochen haben, denn der Colormann nickte verständnisvoll und sagte, wenn ich ihm etwas mitzuteilen hätte, er sei in der Küche.
    Zehn Minuten später ging ich nach unten, in der Küche saß der Colormann und – ich konnte kaum glauben, was ich sah – hatte mir eine Tasse Tee gemacht. Was für eine unerhörte Ehre! Jemand mit dem Titel Eure Farbenprächtigkeit kocht mir einen Tee. Es nahm mir sofort jede Befangenheit. Endlich hatte ich jemanden, dem ich mein Herz ausschütten konnte, und mit einem Schlag hatte sich auch die Frage geklärt, ob ich Jane verpetzen sollte oder nicht, denn mit der Lösung des Schubkarrenrätsels hatte ich ihm etwas Positives zu bieten. Immerhin hatte er mir mit dem Angebot, das Eingangsexamen für NationalColor abzulegen, eine große Freundlichkeit erwiesen.
    Doch die Sache mit der Schubkarre interessierte ihn erstaunlicherweise überhaupt nicht.
    »Mehr haben Sie nicht für mich?«, fragte er, als ich zum Ende meiner Geschichte gelangt war. »Sie stolpern über eine Schubkarre, und urplötzlich machen die Menschen etwas, das sie seit fünfhundert Jahren nicht gemacht haben? Eddie! Nachts geschieht rein gar nichts. Das ist alles.«
    »Die Schubkarre

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