Grau - ein Eddie Russett-Roman
Verlässlichkeit der Regeln und die bedingungslose Einhaltung sind das Fundament … «
»Die Scones sind noch nicht ganz fertig. Bring schon mal den Tee rein, ich komme dann nach.«
»Hörst du mir überhaupt zu?«
»Ich habe irgendwie abgeschaltet, als du Luft geholt hast.«
Ich bedachte sie mit einem grollenden Blick, schüttelte bedauernd den Kopf, machte deutlich hörbar »ts, ts« und verließ mit, wie ich hoffte, demonstrativer Empörung den Raum.
Die Präfekten
1.1.06.01.223: Der Posten des Präfekten steht nur Personen mit einer Farbwahrnehmung von 70 % oder mehr offen. Falls kein Kandidat zur Verfügung steht, kann ein amtierender Präfekt ernannt werden, bis ein Nachfolger gefunden ist.
Als ich in den Salon zurückkehrte, unterhielten sich die Präfekten gerade über Travis Canary und seinen Brandanschlag auf die Postsendungen. Unwillkürlich kam mir der Gedanke, dass es eigentlich kein Vergehen war, die Post von Toten zu vernichten, vielmehr ein Dienst an der Gemeinschaft. Außerdem fiel mir auf, dass die Ratsmitglieder in meiner Abwesenheit alle Zuckerstückchen entwendet hatten. Ich blieb höflich, so gut ich konnte, und schenkte den Tee ein, doch meine Hand zitterte. Präfekten machten mich nervös, besonders wenn ich eigentlich gar nichts verbrochen hatte.
»Nun, Master Russett?«, sagte Oberpräfekt von der Malve. »Was haben wir von Ihnen zu erwarten?«
Ich spulte die Standard-Antwort ab: »Ich werde mich bemühen, mich während meines kurzen Aufenthalts hier als wertvolles Mitglied des Kollektivs zu erweisen.«
»Selbstverständlich«, erwiderte er. »In Ost-Karmin gibt es keinen Platz für Drückeberger, Faulenzer und Schnorrer.« Er sagte es mit einem Lächeln, doch ich begriff es als Warnung, denn so war es gemeint.
»Reisen ist ein sehr großes Privileg«, fuhr er fort, »aber kann auch zur Verbreitung von Disharmonie führen, vom Mehltau ganz zu schweigen. Was war der Grund für Ihre Reise, Master Russett?«
»Eigentlich bin ich hierhergeschickt worden, um eine Stuhlzählung vorzunehmen, Sir.«
Die Präfekten tauschten vielsagende Blicke.
»Haben Sie einen Auftrag dazu?«
»Ja, Sir.«
»Dann wird Ihnen Sally sicher gerne beistehen«, murmelte Amaranth.
»Sind Sie hier zur Bewährung in Demut?«, fragte von der Malve mit Blick auf mein Etikett.
»Ja, Sir.«
»Dann kann ich nur hoffen, dass Sie etwas daraus lernen, Master Russett. Es wäre eine Schande gegenüber Ihren Vorfahren, das ganze Rot, das sie sich so hart erkämpft haben, zu vergeuden, meinen Sie nicht?«
»Ja, Sir.«
Der Skandal der Familie Russett war nur allzu bekannt. Vor drei Generationen hatte ein exzentrischer Vorfahre mit mehr Rotsicht als Verstand beschlossen, eine Graue zu heiraten. Der Mann hieß Piers Burgundy, war Präfekt und entfernt verwandt mit dem Ersten Roten. Name und Farbton gingen in der Verbindung verloren, und die abgeschwächte Wahrnehmung von kaum sechzehn Prozent bei dem gemeinsamen Sohn bedeutete eine Herabstufung zu Rostrot. Seitdem versuchten die Russetts, ihren sozialen Status wiederzuerlangen. Die ganze Sache erregte unglaublichen Anstoß, selbst für heutige Verhältnisse, aber verstieß nicht gegen die Regeln. Aus Liebe zu heiraten war nicht verboten, es war nur unvernünftig. Heirate spektralabwärts, und der Hass deiner Enkel ist dir sicher , lautete ein Sprichwort.
Die Präfekten unterhielten sich weiter, während ich den Tee herumreichte, doch plötzlich verstummten alle. Jane hatte mit einem Tablett voll Scones das Zimmer betreten. Amaranth und Turquoise sahen plötzlich leicht beunruhigt aus und wichen zurück, als sie näher kam. In diesem Moment fiel mir auf, dass Janes Feindseligkeit ganz allgemeiner Natur war: Sie hasste nicht nur mich, sie hasste jeden spektral Höherstehenden. Ihre Abneigung gegen mich war also nicht persönlich gemeint; ein blasser, vielleicht trügerischer Hoffnungsschimmer, jedenfalls etwas, auf das ich aufbauen konnte.
»Danke, Jane«, sagte von der Malve, der anscheinend der Einzige war, der keine Vorbehalte gegen sie hegte.
»Sir«, sagte sie und stellte den Teller mit den heißen, dampfenden, süßlich duftenden Scones auf den Tisch. Turquoise und Amaranth beobachteten sie argwöhnisch.
»Na, schon den Löffel eingepackt und startbereit?«, fragte Amaranth unnötig provokant.
Jane sah ihn verächtlich an, nickte, nicht aus Freundlichkeit, sondern gewohnheitsmäßig, und verließ das Zimmer.
»Die sehe ich auch lieber von hinten«, murmelte
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