Grau - ein Eddie Russett-Roman
sah mich nur vollkommen teilnahmslos an.
»Reboot oder Nachtabgang«, sagte sie. »Für uns ist das ein und dasselbe. Habe ich nicht recht, Tommo?«
»Ja.«
»Aber er ist doch ein Gelber«, insistierte ich.
»Farblich, aber nicht im Herzen«, erwiderte sie. »Seine Selbstlosigkeit hat uns soeben den Preis einer Fahrkarte erspart, in der Hinsicht sollten wir ihm dankbar sein.«
»Sie wollen also nichts unternehmen?«
Ihre Augen funkelten gefährlich.
»Nein!«
Ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen, marschierte sie zurück in ihr Haus.
Ich stand da und glotzte in die Dunkelheit. Travis war zum Reboot abkommandiert worden, nur weil er einen Verbesserungsvorschlag gemacht hatte, und trotz seines unsympathischen Farbtons: Er hatte mir seine Freundschaft angeboten, und ich war auf sein Angebot eingegangen.
Ich öffnete den Notkasten unter dem Alarmknopf. Die Seilwinde und der Gürtelhaken waren da, aber die Magnesiumleuchtrakete fehlte. Ich sah hinaus in die Dunkelheit und versuchte, mir bildlich vorzustellen, wo Travis sein könnte. Ich konnte zwar absolut nichts erkennen, aber ich wusste, dass die Straße vor mir am Flakturm vorbeiführte, weiter durch das öde Grasland und an der Brücke vorüber zur dahinterliegenden Linoleumfabrik.
Und dann hörte ich ihn. Mehrere, kurz aufeinanderfolgende Schreie, als die Nachtangst ihn packte. Gegen Nachtangst war niemand immun, weder der klügste Präfekt noch der beste Mustermann. Jeder wusste, was einen erwartete – selbst in geschützten Räumen übte die Abwesenheit von Licht eine Wirkung auf die Sinne aus, die zu einer Vielzahl schrecklicher Erscheinungen führte. Doch nur, wenn man in Panik geriet und zuließ, dass die Angst einen überwältigte. Hatte sie einen erst mal voll im Griff, brauchte man Nerven aus Stahl, um sich wieder daraus zu befreien.
Ohne zu überlegen, zog ich Schuhe und Strümpfe aus und spürte die Wärme des Perpetulits unter meinen Füßen. Wenn ich mich bemühte, nicht von der Fahrbahn abzukommen, hatte ich nichts zu befürchten.
»Was machst du da?« Tommo war von meinem Tatendrang genauso überrascht wie ich.
»Klingt, als wäre er am Faraday’schen Käfig«, antwortete ich, während ich den Haken an meinem Gürtel befestigte, das Seil einmal um die Hüfte schlang und Tommo die Winde in die Hand drückte. »Ich bin gleich wieder da.«
»Ohne Leuchtrakete? Warte … «
Ich beachtete ihn nicht weiter und durchstieß die schwarze Mauer vor mir. Anfangs kam ich gut voran, ohne jeden Anflug von Panik, doch nach etwa dreißig Schritten holte mich die Ungeheuerlichkeit meiner Tat ein. Plötzlich fühlte ich eine Beklemmung in der Brust, mein Mund wurde trocken, und die Wogen der Finsternis türmten sich zu Umrissen auf – ich spürte das Einsetzen der Nachtangst. Aus alter Gewohnheit schloss ich automatisch die Augen und atmete tief und regelmäßig, bis die Panik nachließ. Dabei war es nicht unbedingt hilfreich, dass Travis gelegentlich einen Schrei von sich gab. Ärgerlicherweise war er nicht stehengeblieben, sondern weitergegangen, und mit jeder Minute wurden seine Rufe schwächer. Ich war nicht abgewichen von der Fahrbahn, immer die weiche und kühle weiße Mittellinie mit den Füßen ertastend, und nachdem ich mich knapp fünfzig Meter weit vorgewagt hatte, hörte ich erneut die Sirene. Absolut ungewöhnlich – denn es konnte nur bedeuten, dass sich noch ein zweiter Trottel auf der anderen Seite des Dorfes verirrt hatte.
Ich ging noch etwa zehn Schritte, langsamer diesmal, da ich allmählich die Orientierung verlor. Die aufgeregten Stimmen neu hinzugekommener Gaffer, zweifellos durch die Nachricht von gleich zwei Nachtabgängen aus ihren Häusern hervorgelockt, erreichte mein Ohr. Erst als sich die Sicherheitsleine spannte und mich am Weitergehen hinderte, wurde mir klar, dass der zweite Alarm mir gegolten hatte.
»Eddie!«
Mein Vater! Er war weit hinter mir. Ich rief ihm zu, alles sei in Ordnung, doch meine Stimme, die zuversichtlich klingen sollte, war mickrig und ängstlich. Er sagte, ich solle umkehren, sie würden mich mit der Seilwinde heranziehen. Ich drehte mich tatsächlich um, und sehr weit weg, wie eingehüllt in einen dunklen Tunnel, war ein kleines Dorf, der Nacht hilflos ausgeliefert. Es blieb auch nicht an ein und derselben Stelle, sondern schien sich als Ganzes zu bewegen, während mein ungeübter Blick hin und her sprang und ich versuchte, die ungewohnte Umgebung zu erfassen. Zuerst dachte ich, es sei
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