Grau - ein Eddie Russett-Roman
besser, auf ihn zu hören, doch dann überlegte ich mir, dass ich noch dümmer dastehen würde, wenn ich gar nichts erreicht hätte. Wieder rief ich meinem Vater zu, es sei alles in Ordnung und er möchte noch von dem Seil nachgeben.
Trotz seiner Ermahnungen ging ich weiter, und plötzlich traf mich etwas Hartes am Schienbein. Ich stürzte vornüber, fiel auf irgendeinen kantigen Gegenstand, spürte einen kräftigen Schlag ins Gesicht und gleich danach den salzigen Geschmack von Blut im Mund.
Wenn es einen Moment gab, in Panik zu geraten, dann ganz sicher jetzt. Die Wogen der Finsternis nahmen plötzlich Gestalt an und schienen über mich herzufallen. Eine kalte Hand griff nach meinem Herz, Schweiß rann mir den Rücken hinunter. Ich biss mir in die Hand, um nicht schreien zu müssen, dann setzte ich mich auf die Fahrbahn, stierte in die tintenschwarze Dunkelheit und atmete tief durch. Die Nacht um mich herum schien an Gewicht zu gewinnen und legte sich immer enger um mich, wie eine Umarmung, in der ich erstickte. Die Finsternis würde sich wie ein Mühlteich über mir schließen, und dankbar würde ich in die Bewusstlosigkeit sinken und sterben.
Aber es kam anders. Ich bezwang die Angst; ich stellte fest, dass es sich bei dem Gegenstand, auf den ich gefallen war, um eine harmlose Schubkarre handelte; und ich musste ertragen, dass niemand Geringeres als der Oberpräfekt persönlich mich unter Schimpf und Schande mit der Leine ins Dorf zurückzog. Das warme Gefühl, wieder in Sicherheit zu sein, war nur von kurzer Dauer, denn es wurde mir unmissverständlich zu verstehen gegeben, wie ungeheuerlich, ja unverantwortlich meine Tat war. In schrillem Ton erklärte mir von der Malve, ich hätte die zwanzig Jahre, die das Kollektiv in meine Person investiert habe, leichtfertig aufs Spiel gesetzt.
»Solche tollkühnen Kunststückchen können Sie sich nach Ihrer Pensionierung erlauben«, wetterte er, »wenn Ihre Zivilen Verpflichtungen abgearbeitet sind.«
Er hielt mir eine Standpauke, die sich gewaschen hatte. Trotzdem bekam ich keine Meriten abgezogen, da mein Verhalten nicht gegen die Regeln verstieß.
Etwas Gutes hatte meine Exkursion dennoch, denn sie hatte die Präfekten davon überzeugt, dass nun doch eine Suche nach Travis gestartet werden sollte, »gestrauchelter Gelber hin oder her«, und Mr Fandango wurde losgeschickt, ein paar Tageslichtraketen zu besorgen. Mrs Schwefel, in zweifacher Hinsicht wütend auf mich, einmal, weil ich mich ihrem Befehl widersetzt hatte, und zum zweiten, weil meine Tat sie nun dazu zwang, das Richtige zu tun, beharrte darauf, dass sie und Courtland nach Travis suchen sollten. Den Einwand, die Rettungsaktion würde somit nicht nur die Gelbe Präfektin, sondern auch ihren Nachfolger unnötig in Gefahr bringen, tat sie lachend ab. Sie würde nur bis zur Grenze gehen, auf keinen Fall weiter.
Die Tageslichtraketen waren schnell beschafft, und nachdem Schwefel senior und Schwefel junior ihre Wanderstiefel angezogen hatten, zogen sie die Zündschnur der ersten Magnesiumrakete. Die Lampe zischte kurz und entflammte dann ein grelles, weißes Licht, das beim Brennen pulsierte und prasselte und einen ätzenden Qualm freigab, der uns alle zum Husten brachte.
Die beiden verloren keine Zeit und eilten hinaus in die Nacht. Wir sahen ihnen unter ihrem Schirm aus flackerndem Licht hinterher, bis sie wenig später außer Sicht waren.
»Drei Monatsrationen an Leuchtraketen an einem einzigen Abend verpufft«, brummte Fandango, und die Menge der Zuschauer zerstreute sich allmählich.
Dad schüttelte nur traurig den Kopf und sagte, ich solle auf mein Zimmer gehen und »mir über ein paar Sachen klarwerden«, was in seiner Vater-Sprache bedeutete, dass er ziemlich sauer auf mich war, aber am nächsten Tag alles vergessen wäre.
Ich ging also nach oben auf mein Zimmer und setzte mich im Schneidersitz aufs Bett. Meine Muskeln zuckten noch immer von der Nachtangst, doch alles in allem fühlte ich mich ganz gut. Über mir hörte ich den Apokryphen rumoren, dazu der leichtere Schritt einer anderen Person, die sich langsamer bewegte. Trotz allem, was mit Travis passiert war – ich hatte noch etwas Wichtiges zu erledigen, deswegen verdrängte ich vorerst das nächtliche Geschehen, justierte den Gelenkspiegel, um das Licht, das vom Flur durch die geöffnete Tür in mein Zimmer strömte, voll auszuschöpfen, und setzte dann nach kurzem Überlegen das Telegramm an Constance auf.
AN CONSTANCE OXBLOOD SW 3 6ZH
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