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Grau - ein Eddie Russett-Roman

Grau - ein Eddie Russett-Roman

Titel: Grau - ein Eddie Russett-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eichborn-Verlag
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obsolet, und ich brauchte eine ganze Zeit, bis mir dämmerte, dass ein Mountie so etwas wie ein Roter Regelhüter war, aber zu Pferd.
    Ich lauschte der Geschichte, sah aus dem Fenster und konnte gerade noch die blasse Scheibe des Vollmonds in der Ferne erkennen. Schaudernd zog ich mir die Decke über den Kopf.

Frühstück
    6.1.02.03.012: Die Zuteilung von jährlich tausend Stunden Lampenlicht liegt im Ermessen des Rates. Mehrfachlampenköpfe sind erlaubt, die Gesamtzuteilungszeit bleibt davon jedoch unberührt. Ungenutzte Zeit wird angerechnet.
    Ich erwachte vor Tagesanbruch. An Schlaf war nicht mehr zu denken, also stützte ich mich auf den Ellbogen auf und stierte in die Dunkelheit. Ich vermochte nicht einmal zu sagen, ob meine Augen geöffnet oder geschlossen waren, denn die Dunkelheit waberte um mich her wie schwarze Maden in einem Kohlenkeller. Ich tastete nach den Zeigern des Weckers auf meinem Nachttisch, um mich zu vergewissern, dass der Tagesanbruch kurz bevorstand, da hörte ich auch schon in der Ferne das leise Brummen des ersten Heliostats, der sich automatisch nach der aufgehenden Sonne ausrichtete. Ein zweiter folgte, dann ein dritter, und bald war die Luft erfüllt von dem munteren Chor der surrenden Mechanik. Danach kamen die Vögel, die pfeifend und zwitschernd den neuen Tag begrüßten, und wenig später, als ich in die schwarze Umgebung blinzelte, leuchtete ein ganz schwacher Rotschimmer in dem Vorhang aus Dunkelheit auf. Rasch wurde daraus eine klar umrissene schmale Sichel, dann ein Halbkreis, und ganz allmählich kehrte Vollsichtigkeit zurück, und ich erkannte mein Zimmer. Zuerst wurde der Türrahmen in ein gedämpftes tiefes Rot getaucht, dann der ganze Raum, der sich im Licht der Strahlen des neuen Tages, je höher sie die vier Wände hochkrochen, wieder neu zusammenfügte. Die Finsternis war vertrieben.
    Ich stand auf, wusch mir das Gesicht und zog meine Abenteuer-Outdoorkleidung Nr. 9 an, die aus Dreiviertelshorts, Safarihemd und festem Schuhwerk bestand. Danach tapste ich vorsichtig nach unten, um Tee zu kochen. Noch bevor ich die Küche erreicht hatte, verschwand die Sonne jedoch schon wieder hinter einer dicken Wolke, und das Licht im Raum sackte auf unter eine Footcandle über der Richtschwelle ab. Nachdem ich beim Tischdecken gleich mehrmals schmerzhaft gegen Möbel gestoßen war, gab ich auf und verzog mich auf die Sitzbank in der Ecke.
    Als ich zum zweiten Mal aufwachte, hatte sich der Tag aufgehellt, mein Vater war bereits angezogen und machte sich am Küchentisch zu schaffen.
    »Guten Morgen«, sagte er lachend. »Du hast im Schlaf gesprochen. Von einem› unverschämten Mädchen ‹. Wer ist das?«
    »Habe ich einen Namen genannt?«
    »Nein.«
    »Dann weiß ich es nicht.«
    Ich hatte geträumt, Jane und ich würden in der Morgendämmerung in einem Teich schwimmen, dessen Oberfläche spiegelglatt war. Dampf stieg auf, verhüllte das Ufer und schnitt uns von der restlichen Welt ab. Ich hatte Witze erzählt, Jane hatte gelacht, sogar über die schlechten. Wir waren kurz davor, uns zu küssen, als Constance, im Bug eines Ruderboots stehend, in wehendem roten Gewand auf uns zutrieb. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen – und in dem Moment wachte ich auf.
    »Du hast noch irgendwas von einem Kaninchen erzählt«, ergänzte Dad.
    »Hm … es hatte Kiemen und knabberte an unseren Zehen«, sagte ich stirnrunzelnd.
    Er lachte wieder und fragte mich, wie es mir ging. Ich ertastete die Platzwunde am Mund, die ich mir gestern Abend beim Stolpern über die Schubkarre zugezogen hatte. Sie tat immer noch weh, heilte aber schon ab.
    »Sie haben Travis nicht gefunden«, teilte er mir mit.
    »Ja«, sagte ich. »Nachtabgänge werden selten aufgespürt.«
    »Du hast großen Mut bewiesen«, fuhr er fort. »Das ist gut. Aber bitte tu so etwas nicht, wenn die Präfekten in der Nähe sind. Es lenkt nur die Aufmerksamkeit auf dich.«
    Ich fragte ihn, was er damit meinte, doch er zuckte nur mit den Schultern. Da ich immer noch genug Zeit für ein warmes Frühstück hatte, machte ich mich auf den Weg zum Rathaus.
    Unterwegs ging ich am Postamt vorbei. Die Geschäftszeiten waren verlängert worden, um den jahreszeitlich bedingten Gewinn an Tageslichtstunden voll auszuschöpfen, und als ich ankam, war es bereits seit einer halben Stunde geöffnet. Der Raum war sauber, wenn auch unsäglich altmodisch, nur der rote Originalanstrich wirkte noch leidlich frisch.
    »Wollen Sie sich damit wirklich

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