Grau - ein Eddie Russett-Roman
welliges Haar, war zierlich und blass und sah leicht verwirrt aus. Dad und ich hatten sie am vorigen Tag schon mal gesehen, als sie mit einem Pendel in der Hand auf der Brücke stand. Sie sah in unsere Richtung, und Tommo winkte ihr zu. Mit unsicheren Schritten durchquerte sie den Raum. »Hallo, Timmo«, sagte sie.
»Ich heiße Tommo«, verbesserte er sie. »Ich habe mir gedacht, vielleicht willst du uns ja Gesellschaft leisten, mein Täubchen.«
Sie setzte sich und starrte mich einen Moment lang an.
»Ich könnte jetzt gut einen Tee vertragen.«
Tommo verstand den Hinweis und sprang auf.
Lucy beugte sich vor und stützte sich auf der Tischplatte ab, um den Halt nicht zu verlieren. »Er will mich heiraten«, sagte sie. Sie sah mir dabei nicht in die Augen, sondern auf eine Stelle über meiner linken Augenbraue. »Meine Mutter hat mir in der Frage freie Wahl gelassen. Soll ich? Was meinst du?«
»Er glaubt, dass du Geld hast.«
Sie schnaubte.
»Wir haben keinen Cent.«
»Dann lieber nicht. Übrigens, ich bin Eddie Russett.«
»Der Sohn des Mustermanns?«
»Genau der.«
»Du bist ziemlich hübsch, besonders deine Nase gefällt mir.«
»Die habe ich zum Geburtstag geschenkt bekommen.«
»Was hast du denn noch Interessantes geschenkt bekommen?«
Ich beschloss, das Thema zu wechseln, weil sie mir etwas zu forsch war.
»Tommo sagt, du würdest nach harmonischen Pfaden suchen.«
»Die Erde ist durchströmt von stummer musikalischer Energie«, antwortete sie etwas theatralisch. »Sie steckt in den Steinen und im Boden, in der Heide und den Feldern. Es-Dur, falls es dich interessiert, aber sehr weit oben auf der Skala, also fast unhörbar. Es ist wie ein energiegeladener harmonischer Zephir, der sich bestimmte Kanäle und Pfade sucht und mein Pendel zum Schwingen bringt – so wie ein Luftstrom ein Windspiel bewegt – eine Energie, die alle Dinge miteinander verknüpft, eine Harmonie der Sphären.«
Ich schwieg vielsagend.
»Ich weiß«, seufzte sie und fuhr sich mit der Hand durchs Haar, »das denken alle. Krieg ich ein Löffelchen von dir?«
Ich stutzte, sprachlos über ihre Direktheit. Mit dem zunehmenden Wert von Löffeln war die Unsitte aufgekommen, diese als Tauschmittel gegen DasEine zu verwenden, was die einstmals eigentlich romantische Tradition des Löffel-Schenkens beschmutzt hatte. Meine Antwort hatte daher nicht ganz den Grad an Eloquenz, den ich unter normalen Umständen anstrebe.
»Also, nein, äh, ja, ich meine … entschuldige, was hast du gesagt?«
»Nachtisch-, Suppen- oder Teelöffel, mir egal, was für einer. Aus Rostberg. Da fährst du doch hin, oder?«
»Ach so. Ich soll dir einen Löffel mitbringen . Ich dachte, du meinst … «
»Dass ich mir DasEine von dir erschleichen wollte? Jetzt komm aber, Eddie, ganz so hübsch bist du nun auch wieder nicht. Aber wo wir schon mal beim Thema sind: Kannst du gut küssen? Ich brauche jemanden zum Üben, und du siehst aus, als könntest du einen kleinen Zuverdienst ganz gut gebrauchen. Wenn wir Timmo nicht mit einbeziehen, sparen wir uns ein kleines Vermögen.«
»An wie viele Küsse hast du denn gedacht?«, fragte ich nach. Ein »kleines Vermögen« aus fünf Prozent Gespartem, das konnte bedeuten, dass ich mir die Lippen fransig küssen musste – und meine Zunge obendrein, wenn sie diese Variante auch mit berechnet hatte.
Sie zuckte mit den Schultern.
»Hängt ganz davon ab, wie gut du bist. Freundschaft?«
»Freundschaft.«
»Enge Freundschaft?«
»Belassen wir es vorerst bei Freundschaft.«
»Hier ist dein Tee«, sagte Tommo und guckte mich böse an, weil Lucy praktisch auf meinem Schoß saß.
»Für mich bitte keinen Tee«, sagte sie. Ihre Augenlider hingen schlaff herab. »Ich brauche viel eher eine Mütze Schlaf.«
Wie zur Bestätigung sackte ihr Kopf auf den Tisch, und sie fing an zu schnarchen.
»Macht sie das öfter?«, fragte ich. Tommo schüttelte traurig den Kopf. Kein Zweifel, Lucy war offensichtlich high, total begrünt. Wenn die Präfekten erfuhren, dass sie sich in der Öffentlichkeit limonisiert gezeigt hatte, würde es Ärger geben und viele böse Zungen.
»He, Lucy«, sagte ich und schüttelte sie an der Schulter. »Komm, wir gehen spazieren.«
Ich bat Tommo, sie unter der Achsel zu packen, und gemeinsam stellten wir sie auf die Beine. Unter Ächzen und Stöhnen eskortierten wir sie aus dem Saal.
»Von der Malves Haustür ist jetzt genau das Richtige für sie«, sagte ich. »Das Limone, das Lucy gelinst
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