Graue Schatten
draußen.
„Macht das, fangt an. Vom Rumsitzen wird's auch nicht besser“, pflichtete Renate den beiden bei.
Sie war jetzt allein mit Kevin im Schwesternzimmer. Er sah nicht ein, zehn Minuten früher anzufangen, ohne dass es dafür einen dringenden Grund gab. Außerdem war seine Kaffeetasse noch nicht leer. Er konnte das Schweigen ertragen und schaute seiner Chefin von der Seite zu. Wenn sie ihm etwas sagen wollte, hätte sie jetzt Gelegenheit dazu, dachte er.
Aber sie sagte nichts.
Was war ihr Problem? Wollte sie ihm ernsthaft vorwerfen, dass er Anna die Müller anvertraut hatte? Das hatte Renate gestern Vormittag ja kurz angedeutet, aber dann die Standpauke verschoben und seitdem das Thema nicht mehr angeschnitten. Oder war es so, dass die Bullen gestern ihr gegenüber ihm etwas angedichtet hatten? Vermutlich hatten sie bei dem Verhör auch von der Chefin wissen wollen, woher das Hämatom an der Hand der Müller stammte; und nun war er nicht nur für die Bullen, sondern auch für Renate verdächtig. Oder hatten die offensichtlich unterbeschäftigten Beamten Renate über ihn ausgefragt? Hatten sie ihr ähnlich blöde Fragen zum Tod von Fritz, Leutle und Sausele gestellt, oder nach Kevins Meinung zur Sterbehilfe?
„Und zwischen dir und Bettina ist es jetzt endgültig aus?“, erschallte es plötzlich hinter dem Medikamentenschrank.
Kevin guckte erst mal verdutzt und antwortete dann: „Ja, wieso?“
„Nur so. Es geht mich nichts an. Ich will auch nicht in deinem Privatleben schnüffeln. Bloß, Larissa macht sich Sorgen, dass dich das mehr mitnimmt, als du zugibst.“
Hatte die Chefin keine anderen Sorgen? „Alles im grünen Bereich“, antwortete er, während er hörte, dass die Treppenhaustür sich schloss und jemand über den Gang lief. Die Chefin würde sich schon wieder einkriegen, nahm er an.
In der Tür erschien Stur. Er wünschte einen guten Morgen, nicht so überschwänglich wie sonst, aber freundlich wie immer. Renate schaute nur kurz hinter ihrem Versteck hervor, um den Pflegedienstleiter mit gleichgültiger Miene zu begrüßen, und tat dann weiter so, als müsse sie einen Rückstand von mehreren Wochen aufholen.
„Haben Sie auch so schlecht geschlafen nach dem Schock gestern?“, fragte der Pflegedienstleiter und musterte Kevin. Sicher fielen ihm seine Augenringe auf.
„Da bin ich wohl nicht der Einzige.“ Kevin trank seinen Kaffee aus.
„Da haben Sie recht. Ich wollte nur mal schauen, wie es Ihrer Mannschaft geht, Frau Stiegler“, sagte Stur zur klappernden Medikamentenschranktür.
„Ach, das ist aber aufmerksam von Ihnen, Herr Stur. Zu drei Vierteln ist meine Mannschaft schon wieder am Schaffen“, ließ sie verlauten, ohne hinter der weißen Tür hervorzukommen.
Kevin hatte verstanden. Etwas säuerlich lächelnd stand er auf. „Dann will ich mal das fehlende Viertel hinzufügen.“
„So früh heute mit der Übergabe fertig?“ Stur schaute auf die Uhr an der Wand.
„War alles geklärt“, brummte Kevin in seinen nicht vorhandenen Bart und umrundete Stur, der mitten im Schwesternzimmer stand. Renate klapperte nur.
„Alles in Ordnung bei Ihnen, Frau Stiegler?“, fragte Stur.
Kevin sah noch, wie sie plötzlich ihre Arbeit unterbrach und den Schrank zuschob. Dann war er schon aus dem Zimmer. Vom Pflegemittellager nebenan hörte er durch die offenen Türen, wie Renate, plötzlich freundlich wie immer, fragte, ob Stur etwas von Frau Müllers Tochter gehört habe. Der antwortete, dass die sich seltsamerweise noch nicht gemeldet habe, aber das würde sicher heute passieren. Renate äußerte die Befürchtung, dass die Tochter das nicht auf sich beruhen lassen würde, so wie sie die in den zwei Tagen kennengelernt hatten. Stur riet, sachlich zu bleiben, falls sie Theater machen sollte. Notfalls sollte man Frau Ullman zu ihm schicken. Dann fragte er, wie es Anna ginge, und erfuhr, dass sie sich krankgemeldet hatte. Stur meinte, dass er das verstehen könne, so, wie das Unglück das Mädel gestern mitgenommen habe.
Kevin packte die fehlenden Pflegeutensilien auf den Wagen und hörte Stur nebenan predigen, jeder sollte wie gewohnt seine Arbeit machen und das Beste geben. Auch wenn das Außenstehende nicht würdigten und ihnen die Arbeit noch schwerer machten. Die Turbulenzen würde man überstehen, und die Sache mit diesem Anruf würde die Polizei aufklären. Der ausgezeichnete Ruf des Hauses ließe sich nicht so schnell zerstören.
Dann hörte Kevin den Pflegedienstleiter sagen,
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