Graue Schatten
dass er es verdrängte. Eine Information, die er nicht fassen konnte. Ein Hinweis, den er vielleicht an die Bullen weitergeben müsste, um seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen!
Er hatte sich mittlerweile regelrecht in dieses Rätsel um die Stunde vor Sauseles Tod verbissen. Es machte ihm Angst, dass ihn sein Hirn so im Stich ließ. Immer wieder fragte er sich, ob er unter einer partiellen Amnesie litt, die eine ganze Zeitspanne der verhängnisvollen Nacht ausblendete.
Als ihn der Schließer zum Verhör abholte, glaubte Kevin einen Moment lang, sie würden ihn rauslassen, weil sich alles irgendwie aufgeklärt hätte.
Aber im Verhörzimmer begannen sie gleich wieder, ihm dieselben idiotischen Fragen zu stellen: Ob er die Zeit zum Nachdenken genutzt habe. Ob er etwas zu sagen hätte.
Vor ihm auf dem zweiten Tisch lag ein Diktiergerät. Dachten die wirklich, er würde hier ein Geständnis ablegen? Seine Frohnatur erwachte plötzlich, und er erklärte mit ernster Miene, er habe eine Aussage zu machen.
Als der ältere Bulle, der mit den Augenringen, das Diktiergerät eingeschaltet hatte, beugte sich Kevin hinunter und sprach hinein: „Ich, Kevin Linde, möchte zu Protokoll geben, dass ich unschuldig in Heilbronn auf einer Polizeiwache festgehalten werde, und dass das Essen hier ungenießbar ist.“
„Ihnen ist der Ernst Ihrer Lage anscheinend noch nicht bewusst“, meinte der Bulle gelassen und schaltete das Gerät wieder aus. „Es sieht so bescheiden aus für Sie, dass Ihnen die Späße bald vergehen werden. Ich nenne Ihnen noch mal die Fakten: Vier nichtnatürliche Todesfälle in den letzten vierzehn Tagen, ausnahmslos während ihres Dienstes. Zu allen verstorbenen Personen hatten sie Kontakt. Bei allen hatten Sie Gelegenheit unauffällig zu töten.“
Oha, dachte Kevin und runzelte die Stirn. Jetzt sind es doch schon vier.
Der Alte fuhr fort, ihn zu bombardieren. Er fing mit der Müller an. Behauptete, Kevin hätte sie vom Felsen gestoßen, weil er zornig auf die schwierige, störrische Frau war. Sie wüssten, dass Kevin nicht mit den Zeitvorgaben und dem Zeitdruck durch den Stationsablauf zurechtkäme. Er sei an dem Morgen wieder mal spät dran gewesen, und die Müller hätte ihm dann noch eine halbe Stunde gestohlen. Als er sie am Felsen stehen gesehen habe, habe er die Gelegenheit genutzt. Es habe ja schon dreimal geklappt mit dem Töten.
„Absurd!“ Kevin konnte darüber nur erstaunt den Kopf schütteln. Mehr konnte er auch gar nicht sagen, denn das Bombardement ging gleich weiter. Diesmal von schräg oben. Der Jungbulle war aufgestanden und erklärte Kevin nun laut mit feuchter Aussprache, dass er bei der Suchaktion am Donnerstagmorgen als Einziger etwa zwanzig Minuten von keinem gesehen worden sei. Von den vier Personen, die auf jener Seite des Heimes gesucht hätten, kämen auf Grund der Schuhspuren nur drei in Frage. Zwei davon hätten sich gegenseitig immer im Blick gehabt. Bliebe nur er übrig.
„Wie ich schon sagte, ich habe ebenfalls niemanden gesehen, weder Frau Müller noch sonst irgendwen. Ich war bis jetzt noch nicht mal an dem Ort, wo sie abgestürzt sein soll.“
Die zwei Personen, die sich gegenseitig ein Alibi gaben, konnten ja nur Locke und Anna sein, mutmaßte Kevin. Allerdings, keiner von den beiden würde für den anderen lügen. So gut konnten sie sich nun auch wieder nicht leiden. Musste die Alte also ohne fremde Hilfe abgestürzt sein.
Derrick schaltete einen Gang zurück und versuchte Kevin mit ruhiger Stimme damit zu ködern, dass es vielleicht nur ein Unfall gewesen sei, dort am Felsen. Kevin habe die Frau festhalten wollen, sie habe sich gewehrt, sei abgerutscht.
„Nein.“
„Herr Linde, so blöd sind Sie doch eigentlich nicht. Wieso wollen sie nicht verstehen: Sie sitzen in der Klemme. Wir haben die Schuhabdrücke vom Tatort. Spätestens heute Nachmittag haben wir den Beweis dafür, dass Sie am Felsen waren. Es wäre besser für Sie, wenn Sie es jetzt zugäben. Wenigstens, dass Sie dort waren“, sagte der Alte in ruhigem Ton.
„Ich war nicht dort.“
Plötzlich schrillte die Stimme des Milchreisbubis von der Seite, ob er auch abstreite, die Frau so hart angefasst zu haben, dass sie sich ein Hämatom zugezogen habe.
„Schwachsinn!“ Was wollte der ekelhafte Typ? Wann und wo sollte er die Müller hart angefasst haben? Bevor er in Gedanken durchspielen konnte, was sich am Donnerstagmorgen bei der Körperpflege der Müller abgespielt hatte, fing der Alte schon
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