Grave Mercy Die Novizin des Todes
als meine Schulter gegen den unnachgiebigen Stein prallt, dann springe ich vor, den Dolch bereit.
Zu spät. Der Eindringling flieht bereits den Flur entlang. Ich trete gerade rechtzeitig aus dem Raum, um ihn um eine Ecke verschwinden zu sehen. Entschlossen, ihn einzuholen, renne ich los.
Das Labyrinth der Palastflure gereicht mir zum Vorteil, denn wann immer er um eine Ecke biegt, muss er gerade genug das Tempo drosseln, dass ich ihn sehen kann. Wir erreichen eine der Wendeltreppen, und der Spion nimmt immer zwei Stufen gleichzeitig. Während ich mein lästiges höfisches Gewand verfluche, raffe ich die Röcke und folge ihm. Aber ich bin erst auf halbem Weg die Treppe hinauf, als ich das Klicken einer Tür höre, die geöffnet wird, und dann das Geräusch, mit dem sie geschlossen wird.
Als ich den Treppenabsatz erreiche, erblicke ich zu meinem Entsetzen einen langen Flur mit mehr als einem Dutzend Türen. Mit einem frustrierten Fluch nähere ich mich der ersten zu meiner Rechten, spüre aber keinen Lebensfunken dahinter. Der nächste Raum auf der Linken ist gleichermaßen leer. Ich halte vor jeder Tür inne, bis zur vierten, wo ich einen Lebensimpuls spüre.
Ich halte mein Messer bereit, dann bewege ich mich so leise wie möglich, als ich den Riegel anhebe und die Tür aufdrücke.
Ich nehme den Windzug einer Bewegung am offenen Fenster wahr, dann nichts mehr. Im nächsten Moment renne ich durch den Raum und spähe gerade rechtzeitig hinaus, um eine dunkle Gestalt durch einen Bogengang am Rand des Innenhofs verschwinden zu sehen.
Zumindest humpelt er. Hoffentlich hat er sich sein verdammtes Bein gebrochen, als er gesprungen ist. Ich stecke mein Messer in die Scheide und kehre zurück, um Duval von dieser neuen Entwicklung zu erzählen.
Zwei Tage nachdem Duval den Kronrat von Nemours’ Angebot unterrichtet hat, lädt sein Bruder François mich zum Schachspiel ein. Ich nehme die Einladung an und frage mich, ob irgendwelche Hintergedanken damit verbunden sind.
François wartet an einem Tisch im großen Salon, ganz darauf konzentriert, die Schachfiguren aufzustellen, was mir einen Moment Zeit gibt, um ihn unbemerkt zu beobachten. Dass er seine eigene Schwester verraten würde, macht ihn unehrenhaft. Dass er Duvals Bruder ist, macht ihn faszinierend.
Genau in diesem Moment schaut er auf und ertappt mich dabei, dass ich ihn mustere. Ich lächele scheu, als sei ich dabei erwischt worden, wie ich ihn bewundere. Er erhebt sich und macht eine Verbeugung. »Guten Morgen, Demoiselle.«
»Guten Morgen«, murmele ich, während ich Platz nehme.
»Duval hat Euch für den Morgen aus dem Haus gelassen?«
»Duval ist mit der Herzogin und ihren Ratgebern beschäftigt.« Ich verziehe angewidert das Gesicht, und François schnalzt mitfühlend mit der Zunge.
»Was werdet Ihr wählen, meine Dame, schwarz oder weiß?«
Ich betrachte die kunstvoll geschnitzten Spielfiguren vor mir. »Schwarz, denke ich.«
Er zieht überrascht die Augenbrauen hoch. »Ihr überlasst mir also den ersten Zug?«
»Ist die Verteidigungsposition nicht die stärkere?«, frage ich honigsüß zurück.
Er lacht. »Ihr habt zu viel Zeit mit meinem Bruder und seinen Strategien verbracht. Also schön, ich werde den Anfang machen.« Er greift nach dem Bauern seines Königs und rückt ihn zwei Felder vor. Ich antworte, indem ich einen Bauern ein Feld vorrücken lasse.
François sieht mich verschlagen an. »Kein Zögern; das gefällt mir bei einer Dame.« Es ist unmöglich, die Doppeldeutigkeit seiner Worte zu überhören.
»Ich zögere, wenn es einen Anlass dafür gibt, gnädiger Herr, und Euer Spiel hat bisher noch keinen geliefert.«
Er lacht, und ich freue mich darüber, wie geschickt ich diesen Flirt handhabe. »Eine Herausforderung«, sagt er, und seine Augen glitzern bei dieser Aussicht.
Ich lasse mein Gesicht ernst werden. »Da wir gerade von Herausforderungen sprechen, was haltet Ihr von der Versammlung der Staatsmänner? Wart Ihr über Graf d ’ Albrets Androhung eines Krieges genauso schockiert wie alle anderen?«
François’ fröhliches Gesicht wird sachlich. »Ja. Er ist nicht für leere Drohungen bekannt.«
Ich kann nicht erkennen, ob er sich um die Herzogin sorgt oder um seine eigenen Interessen. »Eure arme Schwester hat bereits alle Hände voll zu tun mit Frankreich, sie braucht nicht obendrein noch d ’ Albrets Rebellion.«
»In der Tat, die braucht sie nicht.« Er lächelt gepresst. »Aber ich bin mir sicher, dass Duval sich darum
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