Grave Mercy Die Novizin des Todes
sprechen?«
»Ich werde es versuchen.«
Ich wende das Gesicht von Duval ab und neige den Kopf. Huldigen die Bewohner von Nemours denselben Göttern und Heiligen wie wir in der Bretagne? Ich habe keine Ahnung, aber einen Versuch ist es wert.
Ich schließe die Augen und heiße diese Welt, sich zurückzuziehen, bis ich den harten Stein unter meinen Knien nicht länger fühle noch das verblassende Licht der Sonne auf meinen Lidern sehe. Die schwache Kühle des Todes liebkost meine Wange wie eine liebevolle Mutter, die ein Kind begrüßt, das sie sehr vermisst hat.
Als ich den dünnen Schleier zwischen Leben und Tod wegziehe, ist Nemours da und wartet. Seine Bekümmerung darüber, überlistet worden zu sein, ist stark und fest, eine veritable Mauer der Trauer. Aber es ist die Verzweiflung, die er darüber empfindet, die Herzogin ohne einen Beschützer zurückzulassen, die mein Herz berührt, denn sein letzter Gedanke beweist, was für ein ehrenhafter Mann er war. Auch ich bin voller Verzweiflung. Warum müssen die Ehrenhaften sterben, während so viele Unehrenhafte leben?
Als Nemours’ Seele die Anwesenheit von Leben spürt, bewegt sie sich auf mich zu. Ich greife sanft durch die Wolke von Trauer und Elend, die ihn umgibt, und suche nach seinen letzten Gedanken in der irdischen Welt, nach irgendetwas, das uns helfen wird. Da: Das starke Gefühl einer Hand auf seinem Rücken, ein scharfer Stoß, das Gefühl zu fallen. Von der Wucht seines Aufpralls wird mir schwindelig. Mir ist nicht bewusst, dass ich beinahe gefallen wäre, bis ich Duvals Hände auf meiner Schulter spüre, die mich ins Leben zurückziehen und die Verbindung mit Nemours durchbrechen. Ein Ächzen entringt sich mir, und ich öffne die Augen.
Duval steht über mir. Seine warme, feste Hand erdet mich in dieser Welt, und sein Gesicht ist voller Sorge. »Geht es Euch gut?«
»Ja, gnädiger Herr. Mir geht es gut«, erwidere ich.
Duval berührt mit der freien Hand meine Wange. Es fühlt sich viel wärmer an als die Liebkosungen des Todes, aber es ist genauso sanft. »Warum seid Ihr dann so bleich?«, fragt er leise.
»Das bin ich nicht.« Ich schiebe seine Hand weg und senke den Blick, um ihm nicht in die Augen sehen zu müssen. »Nemours wurde gestoßen. Von hinten. Er weiß nicht, wessen Hand es war, denn er hat sie nicht gesehen.« Wir schweigen beide, während wir die Konsequenzen dieser Neuigkeit verdauen.
Irgendjemand in Annes Kronrat ist ein Mörder.
Dreißig
DUVAL BLEIBT BIS SPÄT im Palast, damit er die Herzogin über die Ereignisse informieren und sich um die notwendigen Briefe und Arrangements kümmern kann, die Nemours’ Tod notwendig macht. Ich mache kein Auge zu. Ich bin wütend, dass diese Chance auf Glück der Herzogin entrissen wurde, dass ein so ehrenhafter Mann durch eine so unehrenhafte Hand sterben musste. Ich will das in Ordnung bringen, es wiedergutmachen, aber das übersteigt selbst die Fähigkeiten Mortains.
Aber vielleicht kann ich dem Herzog von Nemours eine kleine Gnade erweisen.
Bei Tagesanbruch kommt Louyse geschäftig mit einem vollen Wasserkrug und einem fröhlichen »Guten Morgen« herein und drückt die Tür hinter sich mit ihrer üppigen Hüfte zu. »Nachdem ich Eure Kleider zurechtgelegt habe, werde ich Euch ein Tablett aufs Zimmer bringen, damit Ihr frühstücken könnt. Außerdem hat der gnädige Herr Duval einen Brief für Euch hinterlassen.«
»Einen Brief? Ist er nicht hier?«
»Nein, Demoiselle. Er und die anderen hohen Herren sind auf die Jagd gegangen, um die Vorratskammern der Burg zu füllen.«
Sie reicht mir den Brief und wendet sich meinem Kleiderschrank zu. Ich bin hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, ihn sofort zu öffnen, und der Möglichkeit, den Moment zu nutzen, um in mein frisches Hemd zu schlüpfen. Scham gewinnt die Oberhand über Neugier, und meine Narbe ist sicher verborgen von feiner Wäsche, als Louyse zurückkehrt. Sobald sie mir in ein Gewand geholfen hat, entschuldigt sie sich, um mein Tablett zu holen. Ich reiße den Brief auf, und als ich das Siegel breche, fallen kleine rote Wachsbröckchen zu Boden.
Ismae,
ich habe beschlossen, dass wir in den Palast ziehen werden, um der Herzogin näher zu sein. Wenn die Aktivitäten der vergangenen Nacht ein Hinweis auf bevorstehende Dinge sind, möchte ich in ihrer Nähe sein, wenn sie mich braucht.
Außerdem hat der Rat nach reichlichen Erörterungen beschlossen, die geplante Jagd stattfinden zu lassen – so wie alle höfischen
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