Gray Kiss (German Edition)
Ich bin nichts Besonderes. Nur ein Mädchen, das im Chaos versinkt und das eine Art sechsten Sinn hat.“
Ihre Miene änderte sich nicht. „Ja, das ist richtig. Das heißt, vielleicht stecken wir beide viel mehr in der Tinte, als wir es uns eingestehen wollen.“
Ich schluckte. „Ja, vielleicht.“
Sie fühlte mir nicht weiter auf den Zahn, sondern zum Glück ging sie und schloss leise die Tür hinter sich. Ich ließ mich auf den Stuhl sinken und betrachtete mich in meinem Kommodenspiegel. Meine Gedanken rasten, und ich hätte sie gern gezügelt. Selbst hier oben konnte ich Bishops Anwesenheit spüren. Mein Hunger war so immens, dass ich kaum noch durchatmen konnte.
Und jetzt kannte auch noch Cassandra mein Geheimnis.
Ich ging unter die Dusche. Was für eine Wohltat nach dem Zwangsaufenthalt in diesem Kellerloch! Eigentlich hatte ich gehofft, das heiße Wasser würde meine Sorgen wegspülen, aber weit gefehlt. Ich duschte in Rekordzeit.
Als ich den Föhn anstellte, hatte ich plötzlich eine Vision.
Das kam nicht oft vor, doch wenn, dann war es intensiv. Und auch diese Vision bildete da keine Ausnahme.
Sie war wie ein Wachtraum von der Intensität eines Wirbelsturms. Die Bilder veränderten sich in rasend schneller Abfolge, drehten sich, glitten davon, sodass ich kaum etwas richtig erkennen konnte.
Ich sah ein Haus, ein großes Haus, in dem viele Jugendliche in Verkleidung waren. Sie liefen mit Drinks in der Hand rum, knutschten, quatschten, hatten Spaß. Überall dröhnte Musik.
Ich fühlte die Anwesenheit des Engels - des körperlosen Engels. Aber woanders. Irgendwo in der Nähe. Sie war nicht wie die anderen, nicht wie die Engel und Dämonen, die ich kannte. Die Essenz ihres Seins war verzerrt wie das eigene Spiegelbild im Spiegelkabinett eines Vergnügungsparks. Sie war ein Monster geworden, das sich von Freude nährte, damit ihr eigenes Elend nicht noch größer wurde. Ihr war klar, dass sie ihren Opfern jeglichen Lebenswillen raubte, und das erfüllte sie mit Verzweiflung. Und dennoch konnte sie nicht aufhören. Alles, was ihr noch blieb, waren ihr Hunger und ihr Überlebenstrieb.
Sie war erbärmlich und sie war schrecklich.
Und sie wurde von dem Haus angezogen. Wie ein helles Licht leuchtete es ihr den Weg in der dunklen Stadt.
Sobald sie dort eintraf, würde sie auf viele Teenager stoßen, die vor Lebensfreude und Spaß förmlich übersprudelten …
Was für ein Festmahl.
Die Vision verlagerte sich. Das Szenario danach. Leichen lagen im ganzen Haus verstreut, leblose Körper, überall Blut, an den Wänden, auf dem Teppich, auf den Holzfußböden.
Noahs Halloweenparty war zu einem Massenselbstmord geworden.
Die Vision endete, und ich taumelte zurück. Ich hatte plötzlich mörderische Kopfschmerzen. Ich stürzte zu Boden, rappelte mich allerdings sofort wieder auf, schlüpfte in meine Kleidung und rannte so schnell ich konnte nach unten.
Besorgt schaute Bishop mich an. Er stand noch immer im Flur.
„Was ist los?“, wollte er wissen.
Ich erklärte so rasch wie möglich, was ich gesehen hatte. Cassandra gesellte sich zu uns. Sie hatte mich gehört. Keiner von beiden sagte zu mir, ich solle mir keine Gedanken machen, das hätte ich mir sicher nur eingebildet.
Stattdessen fragte Cassandra: „Ist es schon passiert?“
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, aber bald.“
„Eine Zukunftsvision.“ Sie musterte mich prüfend „Hast du so was öfter?“
„Zum Glück nicht.“ In meiner letzten Vision hatte ich gesehen, wie die Stadt zerstört und von dem geschluckt wurde, was ich jetzt als das Schwarz kannte. Ich konnte mich jedoch nicht in allen Einzelheiten erinnern. Vermutlich versuchte mein Verstand aus Selbstschutz, diese apokalyptische Katastrophe auszublenden.
Doch wir konnten in die Zukunft eingreifen. Keine meiner schrecklichen Visionen musste wahr werden.
„Gehen wir“, sagte Bishop. „Sofort.“
„Ich komme mit“, erwiderte ich entschlossen.
Er schaute mich an. „Ja, du kommst mit.“
Nun würde ich also doch auf Noahs Halloweenparty gehen.
25. KAPITEL
„Wir können Moms Wagen nehmen“, schlug ich vor und schnappte mir den Schlüssel. „Nur kann ich nicht fahren.“
„Wieso nicht?“, fragte Cassandra.
„Weil ich keinen Führerschein habe. Bin noch nicht dazu gekommen.“
„Ich kann fahren“, schaltete sich Bishop ein und griff sich den Autoschlüssel aus meiner Hand.
„Hast du denn einen Führerschein?“
„Rein technisch gesehen, nicht. Aber das hat
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