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Grayday

Grayday

Titel: Grayday Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hari Kunzru
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befristetem Visum sprach. Victoria warnte Diego, sie habe ihn durchschaut. Belle erfuhr die Wahrheit über Janes Schwangerschaft. Jerry stachelte überformatige Frauen dazu an, sich mit ihren sie betrügenden Partnern zu prügeln, und Arjun sprach mit drei, fünf, sieben Firmen. Keine von ihnen wollte ihn anstellen.
    Als er mit der amerikanischen Sprache und Wirtschaft besser zurechtkam, entdeckte er, dass er in einem »einkommensschwachen Viertel« wohnte. In seinem Zimmer verstummte das Dröhnen des Verkehrs vom Highway 101 keinen Augenblick. An der Ecke spielten apathische junge Schwarze und Latinos Musik mit wummernden Bässen und beugten sich in die Wagenfenster, um mit den Fahrern kurze Unterhaltungen zu führen. Kohlenwasserstoffgestank hing schwer in der Luft, und nachts war das Verkehrsgebrumm von Polizeisirenen und Knackgeräuschen begleitet, die Vijay mit Bestimmtheit als Gewehrschüsse identifizierte. Die Vorstellung von einer amerikanischen Armut, vor allem einer Armut, die Autos, Kühlschränke, Kabelfernsehen oder Fettleibigkeit nicht ausschloss, war ein neues und beunruhigendes Paradox, ein Hinweis darauf, dass etwas Unkontrollierbares und Bedrohliches unter der spiegelnden Oberfläche Kaliforniens lauerte. Arjun verbrachte so wenig Zeit wie möglich außerhalb des Hauses, weil ihn das genaue Studium der Kabelnachrichtenkanäle davon überzeugt hatte, dass er sich damit in Gefahr begäbe. Auch unbewaffnete Amerikaner fand er körperlich Angst erregend. Wenn er in »middle-class-areas« ging (wobei middle-class, wie er entdeckte, ein amerikanisches Wort für weiß war), fühlte er sich erdrückt. An eine Welt gewöhnt, in der jeder mehr oder weniger genauso wie er selbst aussah, kostete es Arjun Überwindung, sich in Menschenmengen zu bewegen, in denen alle groß und schwer und so fleischig waren.
    Während dieser Zeit lief der einzige Kontakt, den sie mit Databodies hatten, über Sherry. Sie parkte ihren Chevy Suburban draußen auf der Straße, schaltete die Alarmanlage ein, blickte sich nervös um und hastete herein in ihren Gestank nach dreckiger Wäsche und Bratöl, sprach ihre Namen falsch aus und brachte wieder mal einen Stapel Verwaltungspapierkram mit, den sie unterschreiben sollten. Alles an ihr wirkte unerträglich selbstgefällig: ihre pompöse Frisur, ihre goldene S-H-E-R-R-Y-Halskette, ihr rosa Lippenstift und der dazu passende Nagellack, sogar das Album mit Familienfotos, das sie in ihrer Handtasche hatte. Allein schon ihre Durchschnittlichkeit wirkte arrogant: die kühle Überlegenheit eines Menschen, dessen Zugang zum amerikanischen Arbeitsmarkt ein Geburtsrecht ist.
    Sie hätten Sherry die Wahl ihrer Accessoires verziehen, wenn sie nicht eine derartige Verachtung für ihre Schützlinge verströmt hätte. »Wie ungewöhnlich«, pflegte sie zu sagen, sobald sie mit irgendwelchen indischen Tics konfrontiert wurde, wie zum Beispiel, dass Rohit ständig paan parag kaute oder Vijay bei bhajans mitsang. Mindestens einmal pro Besuch erwähnte sie, dass ihr Mann geschäftlich Probleme habe, womit sie eigentlich sagen wollte, dass dies der einzige Grund sei, weshalb sie sich dazu herabließ, mit Indern Umgang zu haben. »Wenn sie uns ansieht«, beschwerte sich Salim, während er durchs Fenster zusah, wie sie ihren Wagen anließ, »sieht sie ein Rudel verhungernder Kulis. Die Zicke denkt, sie tut uns ’n Gefallen, bloß weil sie herkommt. Sie hätte sich genauso gut ›Geschenk des Volkes der Vereinigten Staaten von Amerika‹ auf den Arsch tätowieren lassen können.«
    Doch sie mussten nett zu Sherry sein. Sie war ihre einzige Informationsquelle, ihr alleiniger Bezugspunkt in der flachen Weite des Tales. Und obwohl sie es nicht gern zugaben, waren ihre Besuche neben den nachmittäglichen Baywatch- Wiederholungen die Glanzpunkte ihrer leeren Wochen.
    Wenn Arjun mit Indien telefonierte, dachte er nur voller Grauen an die Kosten. Die Familie wollte alles wissen, aber irgendwie entfernten ihre Fragen sie immer weiter von ihm. Wo ist der Tempel, fragte seine Mutter. Trinkst du nur in Flaschen abgefülltes Wasser? Frierst du? Sein Vater wollte etwas über die »Unternehmenskultur« seines Arbeitsplatzes wissen. Es war unmöglich, die Wahrheit zu sagen. »Yeah, Sis, Oracle ist toll. Die Arbeit ist sehr anspruchsvoll. Nein, ich habe noch niemanden entdeckt. Ja, wenn ich ihn sehe, werde ich mir ein Autogramm geben lassen. Nein, überhaupt nicht, ich bin bloß irgendwie geschafft, das ist alles.«
    Als

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