Grayday

Sache bemächtigte, war man allgemein der Ansicht, dass der Angriff blutig gerächt werden sollte. Bobby aus Topeka, der in der Radiosendung einer nationalen Rundfunkgesellschaft anrief, brachte die Stimmung vieler Menschen auf den Punkt.
    »Folter«, sagte er. »Das ist der einzige Weg, wie man rausfindet, wer dahintersteckt.«
    Wen foltern, fragte der Moderator.
    »Verdammt, das weiß ich auch nicht«, antwortete Bobby. »Halt jeden, den sie kriegen.«

A n den Grenzen jedes komplexen Ereignisses beginnt die Einigkeit zu zerbröckeln. Erinnerungen weichen voneinander ab. Fakten gehen nahtlos in Deutungen über. Wie viele Menschen müssen beteiligt sein, damit jede Gewissheit sich auflöst? Nach Ansicht von Informationstheoretikern lautet die Antwort: zwei. Sobald ein Sender, ein Empfänger, ein Übertragungsmedium und eine Botschaft vorhanden sind, besteht die Möglichkeit, dass das Signal durch Rauschen verfälscht wird.
    Natürlich hat Arjun Mehta rechtlich und moralisch die Verantwortung für den Ausbruch der Krise zu tragen. Aber es sind Vorgänge dem Virus Leela zugeschrieben worden, für die der junge Inder nichts konnte. Es hieß, das Virus »greife die Wasserversorgung« an; die Stilllegung der Anlage in Colville sei angeblich Teil der Strategie einer ausländischen Macht, das Trinkwasser mit (je nachdem, mit wem man sprach) Kryptosporidium, E. coli o der LSD zu vergiften. Alarm, meistens falscher, wurde in mehreren amerikanischen Regierungsdienststellen, Kraftwerken, Staudämmen und Militärbasen ausgelöst. Fehlende technische Kenntnisse trugen zur allgemeinen Verwirrung bei. In Honduras wurde Leela verdächtigt, es lasse im Innenministerium Glühbirnen durchbrennen. Ein Mann in Ottawa tapezierte sein Schlafzimmer mit Silberfolie, weil er überzeugt war, vom PC seines Sohnes gingen schädliche Strahlen aus. In Bihar führte die Polizei auf Anweisung eines Regionalpolitikers Razzien auf verschiedenen lokalen Märkten durch und beschlagnahmte VHS-Raubkopien von Leela-Zahir-Filmen, von denen man annahm, sie »verbreiteten Krankheiten«. Und als in den USA die Verantwortlichen für die Website des Houstoner Flughafens entdeckten, dass Verweise auf den George Bush Intercontinental Airport mysteriöserweise in George Bush is Incontinent Airport abgeändert worden waren, gaben sie eine Presseerklärung heraus, in der sie den anonymen Autor von Leela bezichtigten, diese Ungeheuerlichkeit begangen zu haben.
    Umgekehrt sind andere Vorgänge, die man durchaus Leela zuschreiben könnte, durch die Maschen gefallen. Bis auf den heutigen Tag ist den Chronisten vieles verborgen geblieben; sonderbare Marktbewegungen vor allem, Erschütterungen und leichte Beben, Umstrukturierungen von Vermögen, Vertrauen und Macht. Leela saß fest in dem System, wie dessen Quintessenz.
    Vierundzwanzig Stunden, nachdem Leela01 identifiziert und abgewehrt worden war, wurden Varianten gemeldet. Einige waren offenkundig das Werk von Nachahmungstätern, krude Abwandlungen der Betreffzeile der übermittelten E-Mail, oberflächliche Veränderungen des Codes. Andere waren gründlicher, und Analysten mussten sie widerstrebend als vollkommen neue Organismen einordnen. Leela02, 04 und 05 wurden identifiziert. Leela06 (die so genannte KlingeltonLeela), die Handys so programmierte, dass sie eine Melodie aus You’ll Have to Ask My Parents spielten, löste besondere Unruhe aus. Sie bewies Kenntnisse in den Mobiltelefonsystemen, die die Telefongesellschaften schockten und sie zu einer hastigen Überarbeitung der Sicherheitsmaßnahmen zwangen. Klingelton ist außerdem eine von mehreren Leela-Varianten, die nie eindeutig Arjun Mehta zugewiesen werden konnten. Gab es irgendwo noch andere Leute, die von Leela Zahir träumten?
    In den allerersten Tagen der Krise nahmen verschiedene Gruppen und Einzelpersonen die Verantwortung für sich in Anspruch. Maoistische Revolutionäre in Chiapas schickten ein Fax an eine Zeitung in Mexico City, in dem sie mitteilten, Leela sei die jüngste Maßnahme in ihrer Kampagne zur Lähmung der Infrastruktur des Weltkapitalismus. Eine litauische Hackergruppe namens Red Hand Gang verkündete, sie habe sich Leela ausgedacht, um ihre Überlegenheit über ihre Rivalen, die HacktiKons aus Riga, zu demonstrieren. Der Serienbekenner James Lee Gillick III wurde (wie üblich) ignoriert, weil er in seinem Gefängnis in Ohio keinen Zugang zu Computern hatte. Die Shoreditch Brigade, die den britischen Massenblättern ein paar Tage lang