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Grazie

Grazie

Titel: Grazie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chelsea Cain
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roch noch immer nach Tod.
Verfaulende Baumstämme, heruntergefallene Äste, verdorbene Brombeeren.
Die Erde bestand aus verwesenden toten Dingen. Das war ein fröhlicher
Gedanke. Archie strich sich etwas Schmutz von der Hose und schloss die
Augen. Der rauschende Bach und der Wind in den Bäumen klangen, als
flüsterten tausend Leute gleichzeitig.
    Hier hatte alles begonnen. Archie und Henry waren einer
Meldung über eine tote Frau im oberen Teil des Parks nachgegangen. Sie
war noch ein Kind gewesen. Skalpiert. Verbrannt. Übel verstümmelt. Das
war dreizehn Jahre her. Gretchens erstes Opfer. Archies erster Mordfall.
    Archie sah auf das Taschenbuch, das neben ihm auf dem Boden
lag. Gretchen blickte ihm vom Einband entgegen. Er wusste nicht, warum
er es mitgenommen, warum er es nicht im Auto gelassen oder an der
nächsten Tankstelle in einen Mülleimer geworfen hatte. Er wusste nur
eins: Dieser Jacob Firebaugh würde etwas zu hören bekommen.
    Hinter ihm am Hang raschelte etwas. Farne bogen sich unter
Füßen, Erde rutschte, Ranken brachen. Archie war ruckartig hellwach,
öffnete die Augen und führte die Hand zur Waffe im Lederhalfter. Er
drehte sich um und sah einen Jungen ein paar Meter oberhalb von ihm am
Hang stehen.
    Der Junge war vielleicht zwölf, und er keuchte noch von seinem
Abstieg. Hinter ihm vibrierten die Farne. Er sah sehr zart aus, mit
blasser Haut, dunklem Haar und einem Mund voll glitzernder Zahnspangen.
Er trug ein T-Shirt der Oregon Ducks und knielange Shorts voller
Taschen und Schnallen, und seine Waden waren klein und gerade, wie von
einem Vogel. Er hatte eine alte Brotzeitbox aus Metall in der Hand.
»Sind Sie ein Detective?«, fragte er.
    »Ja«, sagte Archie und nahm die Hand von seiner Waffe.
    Der Junge setzte sich neben Archie, kreuzte die Beine nach
Indianerart und platzierte die Essensbox in seinen Schoß.
    Archie nahm das Exemplar von Das letzte Opfer und
legte es auf seine andere Seite, weg von dem Jungen. »Kann ich dir
helfen?«, fragte er.
    »Mir geht es gut«, sagte der Junge.
    Archie hob den Blick zu dem Absperrband, das sie umgab. »Das
ist so eine Art Tatort hier.«
    »Ich weiß«, sagte der Junge.
    Die beiden saßen eine Weile schweigend da und sahen zu, wie
der Bach unten vorbeisprudelte.
    »Haben Sie Kinder?«, fragte der Junge schließlich.
    »Zwei«, antwortete Archie. »Sechs und acht.«
    Der Junge nickte zufrieden. »Ich möchte Ihnen etwas zeigen.«
    Archie sah den Kleinen an. Er war einsam. Suchte nach
Aufmerksamkeit. Archie hatte eigentlich keine Zeit, ihm den Gefallen zu
tun. Aber in seinen Augen war eine Ernsthaftigkeit, die ihn zustimmen
ließ. Sei's drum. Er würde sich das Fort oder was immer der Junge ihm
zeigen wollte, anschauen und dann zu seiner Familie nach Hause fahren.
    Archie stand auf.
    »Vergessen Sie Ihr Buch nicht«, sagte der Junge und zeigte auf Das letzte Opfer.
    Archie sah auf Gretchens Gesicht, auf den rosa Hintergrund,
die goldenen, erhaben gedruckten Lettern. »Richtig«, sagte er, bückte
sich und hob es auf.
    Der Junge krabbelte ein paar Meter den Hang hinauf. Archie
machte einige vorsichtige Schritte auf der schlammigen Böschung und
dachte an den Streifenbeamten, der den Halt verloren hatte. Aber der
Junge wurde nervös und streckte ungeduldig den Arm nach ihm aus. Archie
verstaute das Buch im Hosenbund, nahm die Hand des Jungen und ließ sich
den Hang hinaufführen, zurück auf den Hauptweg, wo der Kleine in
Richtung Westen marschierte, tiefer in den Wald hinein. Es hatte zu
regnen begonnen, ein dumpfes Dröhnen auf dem Blätterdach über ihnen.
Die Aufschläge von Archies Hose waren schwarz vor Schlamm und seine
Hände voller Erde, weil er sich abgestützt hatte. Der Junge ging
zielstrebig, mit kurzen, schnellen Schritten. Archie hatte Mühe,
Schritt zu halten. Dann blieb der Junge stehen, sah Archie an und dann
einen weiteren Hang hinauf.
    »Ist das dein Ernst?«, fragte Archie.
    Der Junge machte ein paar Schritte den Hang hinauf und
streckte die Hand nach Archie aus. Archie nahm sie wieder, und der
Junge führte ihn nach oben. Etwa auf halber Höhe spürte Archie einen
dumpfen Schmerz unter dem rechten Rippenbogen. Er zuckte zusammen,
rutschte im Schlamm aus und fiel auf die Knie. Erde drang in seine
Hosenbeine. Er brauchte einen Moment, bis er wieder zu Atem kam und
sich von dem Kind aufhelfen lassen konnte. Dann stiegen sie weiter.
Archie versuchte, in den Schmerz hineinzuatmen. Es war kein Krampf.
Weniger stechend. Es war ein flacherer,

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