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Grazie

Grazie

Titel: Grazie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chelsea Cain
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dann aus. Im Zimmer roch es
nach Erbrochenem. Niemand außer ihr schien es zu bemerken.
    Archie stand still.
    Sie wusste, dass das am Telefon Gretchen gewesen war. Sie
hatte gehört, wie Henry in der Schule von Archies Kindern anrief. Sie
hatte sich alles zusammengereimt. Funkstille gegenüber den Medien oder
nicht, sie würde die Geschichte durchziehen. Ein Abschluss in kreativem
Schreiben. Fünf Jahre Zeitungsjournalismus. Und trotzdem war die
einzige Frage, die sie zustande brachte: »Was ist los?«
    Henry machte vier Schritte auf Archie zu und legte ihm die
großen Hände auf je einen Oberarm. Archies Knie gaben nach, und einen
Moment lang sah es für Susan so aus, als sei Henry das Einzige, was
Archie noch aufrecht hielt. »Ich habe Einheiten zur Schule geschickt«,
sagte Henry.
    »Ich muss hinfahren«, sagte Archie. »Ich muss sofort dorthin.«
    Henry schien zu schwanken. »In Ordnung«, sagte er schließlich.
    Susan klappte ihr Notizbuch zu und trat einen Schritt vor.
»Ich auch.«
    Henry zögerte keine Sekunde. »Nein.«
    Susan hatte nicht die Absicht, ein Nein als Antwort zu
akzeptieren. Sie wedelte mit dem Notizbuch. »Ihre Medienfunkstille ist
vorüber«, sagte sie. »Sie haben eine Schule stilllegen lassen. Jeder
einzelne Übertragungswagen in der Stadt ist auf dem Weg dorthin. Sie
sind bereits live drauf. Ich bin ihre größte Chance, die
Berichterstattung unter Kontrolle zu halten. Alles, was Sie im
Augenblick sonst kriegen, ist Hysterie. Wollen Sie das?«
    Henrys Stimme wurde leiser. »Ich will sie erwischen, bevor sie
jemanden tötet«, sagte er.
    Susan ließ das Notizbuch sinken und sah ihm in die Augen. »Ich
kann Ihnen dabei helfen.«
    »Sie kann mit mir fahren«, sagte Claire.
    Henry bückte sich, hob das Handy auf, das Archie hatte fallen
lassen, und gab es ihm. Archie nahm es, sah Henry an und nickte.
    Dann drehte sich Henry zu Susan um. Er kniff die Augen
zusammen und wischte sich mit der flachen Hand den Schweiß von der
Stirn. Susan schmeckte den Geruch von Erbrochenem weit hinten im Mund.
    »Lassen Sie sich nicht erschießen«, sagte Henry.

_22_
    D ie Grundschule lag gut zwei Kilometer vom
Haus entfernt. Archie war die Strecke einmal in Meterschritten
abgegangen. Ben wollte es unbedingt. Es ging um eine Wette mit einem
Freund, wer näher wohnte. Es dauerte fünfundzwanzig Minuten, wenn man
zu Fuß ging. Es dauerte acht Minuten morgens mit dem Wagen. Sechs
Minuten am Nachmittag, weil weniger Verkehr war. Mit Blaulicht und
Sirene dauerte es vier Minuten. So viel brachten einem Blaulicht und
Sirene ein: zwei Minuten. Einhundertzwanzig Sekunden.
    Sie konnten entscheidend sein.
    Archie kannte das Verfahren zur Stilllegung einer Schule. Die
Schüler erhielten Anweisung, in ihren Klassenzimmern zu bleiben, die
Pulte in die Mitte des Raums zu rücken und sich von den Fenstern
fernzuhalten. Die Flure wurden geräumt. Um den Zugang kontrollieren zu
können, wurden alle Türen bis auf den Haupteingang abgesperrt. Die
Lehrer schalteten das Licht in den Klassenzimmern aus und ließen die
Schüler auf allen vieren gehen. Alltag im öffentlichen Schulwesen.
    Archie stellte sich Ben und Sara in ihrem jeweiligen
Klassenzimmer vor, er stellte sich ihre Angst vor, und er hasste sich
selbst. Sein Telefon läutete, er klappte es auf, und der Mut sank ihm
ein wenig, als er die Nummer sah. Er hatte gehofft, es sei Gretchen.
    Es war Debbie.
    »Bist du in Sicherheit?«, fragte er.
    »Ich bin in deinem Arbeitszimmer«, sagte sie in schneidendem
Ton. »Bist du schon an der Schule?«
    Er sah aus dem Wagenfenster. Ein Zeichen ›Schule‹ ermahnte
motorisierte Verkehrsteilnehmer, die Geschwindigkeit zu drosseln. Henry
ignorierte es. »Fast.«
    »Du beschützt sie, Archie«, sagte Debbie mit erstickter
Stimme. »Du tötest Gretchen.« Ihre Stimme war ein verzweifeltes
Flüstern. »Versprich es mir.«
    »Ich werde sie beschützen«, sagte Archie.
    »Töte sie«, flehte Debbie.
    Der Wagen kam kreischend zum Stehen, nachdem er vor der Schule
über die Bordsteinkante geholpert war. Acht Streifenwagen waren bereits
da, ihre Lichter blinkten, die Sirenen waren gespenstisch still. »Wir
sind da«, sagte Archie. Die in den Neunzigerjahren erbaute Schule war
ein modernes, einstöckiges Gebäude aus Ziegel und Glas. Es lag in einem
privilegierten Vorstadtbezirk, ein Refugium für Eltern, die Portlands
finanziell klammen Schulen entkommen wollten. Eine sichere,
beneidenswerte Alternative.
    Bis heute.
    Archie klappte sein Handy zu

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