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Grazie

Grazie

Titel: Grazie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chelsea Cain
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und zog die Waffe aus dem
Halfter. Henry war bereits mit gezückter Dienstmarke aus dem Wagen
gesprungen, bellte Befehle und rief den Uniformierten zu, in die Schule
vorzurücken. Archie entsicherte seine Waffe und stieg aus. Das
Adrenalin ließ die Pillen schneller wirken, und Archie spürte das
beruhigende Kribbeln des Codeins in Schultern und Armen.
    Gerade rechtzeitig, dachte er.

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    A rchie erinnerte sich nicht, die
kugelsichere Weste angezogen zu haben, die im Kofferraum des Autos lag,
aber er musste es getan haben, denn er und Henry trugen beide eine, als
sie auf das Schulgebäude zugingen. Er mochte es normalerweise nicht,
wie diese Westen auf seine wunden Rippen drückten, aber heute bemerkte
er es gar nicht.
    Bei einer Simulation eines Überfalls auf eine Schule sichert
die Polizei das Gelände zunächst nur. Sie geht erst hinein, wenn der
Täter lokalisiert und die Lage einschätzbar ist. In Schulen gibt es
naturgemäß Hunderte potenzieller Geiseln, und man will nicht, dass
Kinder erschossen werden, weil die Polizei überstürzt gehandelt hat.
Natürlich geht man bei den Übungen davon aus, dass es sich bei dem
Täter ebenfalls um einen Schüler handelt. Jugendliche sind
unberechenbar. Bewaffnete Jugendliche sind extrem unberechenbar. Und
niemand will einen Jugendlichen erschießen müssen, nicht mal einen mit
einer Waffe. Also sichert man, schätzt die Lage ein, wartet.
    Dieses Verfahren berücksichtigte allerdings Gretchen Lowell
nicht. Sie war berechenbar: Sie würde töten, bis jemand sie aufhielt.
    »Wir gehen rein«, sagte Archie.
    »Ja«, sagte Henry.
    Die Streifenbeamten aus Hillsboro, die auf den Notruf reagiert
hatten, hatten mit einer Frau im Sekretariat der Schule Kontakt
aufgenommen. Sie hatte Angst, war aber ruhig. In der Schule war es
still. Alle vorgesehenen Maßnahmen waren ergriffen.
    Auf einer Tafel über dem Eingang stand: ›Bei der Bildung geht
es nicht darum, einen Kübel zu füllen, sondern darum, ein Feuer zu
entfachen‹.
    »Yeats«, sagte Archie.
    »Was?«, sagte Henry.
    »Nichts.«
    Sie zogen ihre Waffen und betraten die Schule, gefolgt von
sechs nervösen Ortspolizisten mit roten Köpfen.
    Die Eingangstüren öffneten sich zu einem breiten Flur mit
Teppichboden. Ein lebensgroßer Pappmaschee-Tiger, das Maskottchen der
Schule, stand auf halber Strecke, mit Blick zur Tür. Er war
burgunderrot, mit orangefarbenen Streifen. Auf einem Schild stand:
›Bitte nicht auf mich steigen‹.
    Archie war schon x-mal in dieser Schule gewesen. Ben war in
der zweiten Klasse, Sara in der ersten. Beide Kinder waren bereits im
Kindergarten hier gewesen. Es hatte Elternsprechtage gegeben und
Kunstausstellungen, Benefizveranstaltungen, Elternbeiratssitzungen und
Basketballspiele, er hatte die Kinder hingebracht und abgeholt.
    Das stimmte nicht.
    Debbie war x-mal in der Schule gewesen. Archies Arbeit
verhinderte, dass er viel dort war. Er musste früh beginnen und kam
spät nach Hause, deshalb brachte Debbie die Kinder hin. Debbie holte
sie ab. Debbie ging zu den Elternbeiratssitzungen. Archie gab sich
Mühe. Er nahm an möglichst vielen Veranstaltungen teil. Er hatte nie
einen Elternsprechtag versäumt. Aber er hatte sich nicht genügend
bemüht. Er würde sich mehr anstrengen, gelobte er sich. Wenn sie noch
lebten, würde er sich mehr anstrengen.
    »Ben ist in Raum sechs«, sagte Archie zu Henry. »Diese
Richtung.« Er deutete an dem Tiger vorbei. »Am Ende des Flurs. Ich hole
Sara.« Er drehte sich zu den Streifenbeamten um. »Der Rest von Ihnen
geht paarweise und sichert möglichst große Bereiche der Schule.«
    Die Beamten standen einen Moment reglos da und sahen einander
an. Die einzige Frau unter ihnen räusperte sich. Sie war sehr jung,
wahrscheinlich erst seit ein, zwei Jahren Polizistin. »Was sollen wir
tun, wenn wir sie finden?«, fragte sie.
    »Erschießt sie«, antwortete Henry.
    »Nein«, sagte Archie rasch. »Sie ist gefährlich. Lasst euch
auf keine Auseinandersetzung mit ihr ein. Wenn ihr sie seht, ruft mich
über Funk.« Er berührte das Walkie-Talkie an seiner Hüfte.
    Henry deutete auf zwei Streifenbeamte, die junge Frau und
einen Mann in mittleren Jahren. »Ihr beide geht mit ihm«, sagte er.
»Und wenn ihr sie seht, erschießt sie.«
    Sie trennten sich, und Archie führte sein kleines Aufgebot von
dem grinsenden Tiger fort, links den Flur hinab; in der
entgegengesetzten Richtung machte sich Henry auf den Weg zu Bens
Klassenzimmer. Sara war in Raum zwei. Es war nicht weit.

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