Grazie
fragte Gretchen.
Sie fuhr mit dem Zeigefinger leicht von Archies Haaransatz
über die Stirn und dann hinunter zum Nasenrücken. Er lag auf dem Rücken
im Bett, sie auf der Seite neben ihm. Sie hatten gerade wieder
miteinander geschlafen, und er fühlte sich merkwürdig geschwächt davon.
Da war jetzt eine neue Art von Nebel um ihn. Anders als der von den
Pillen. Die Pillen waren wie ein heller Schleier. Das nun war dunkler,
eine Schwärze, die am Rande seines Gesichtsfelds auftauchte.
»Siebzehn«, antwortete er. Er wusste, welche Frage als nächste
kommen würde. »Bei einem Autounfall.«
»Wurde jemand getötet?«, fragte sie.
Er hatte so lange nicht darüber gesprochen, dass er selbst
überrascht war, als er die Wahrheit sagte. Aber es spielte keine Rolle
mehr, und allein die Tatsache, dass sie gefragt hatte, ließ ihn
vermuten, dass sie die Antwort aus irgendeinem Grund bereits kannte.
»Meine Mutter«, sagte Archie.
»Aha«, sagte sie.
»Aha?«
»Du bist gefahren«, sagte Gretchen.
»Die Geschichte habe ich nicht einmal Henry erzählt«, sagte
Archie. Nur Debbie. Niemandem sonst, seit er von zu Hause ausgezogen
war. Es war sein schmutzigstes kleines Geheimnis. Außer Gretchen.
»War es deine Schuld?«, fragte Gretchen.
»Ich habe ein Stoppschild übersehen.«
Gretchen berührte sein Gesicht, zärtlich, wie er dachte. Es
konnte aber auch etwas anderes sein. »Dein Vater hat dir bestimmt nie
vergeben«, sagte sie.
Archie hatte seinen Vater nicht mehr gesehen, seit er von zu
Hause weggegangen war. »Nein«, sagte er.
Sie schwiegen eine Weile, und Archie beobachtete die Schatten,
die der Deckenventilator warf.
»Meine Mutter starb, als ich vierzehn war«, sagte Gretchen
schließlich.
Er fragte sich, ob es stimmte. »Hast du sie getötet?«
»Nein«, sagte sie. Sie stützte sich auf den Ellenbogen und sah
ihn an. Sie sah besorgt aus, ihre Stirn war leicht gefurcht. »Macht es
dir Angst?«, fragte sie.
Er wusste, was sie meinte. »Sterben?«, sagte er. »Im
Augenblick nicht.«
»Am Ende ist es immer gut«, sagte sie und nahm seine Hand.
»Sie sehen immer friedlich aus.« Sie küsste seine Knöchel. »Du hast
auch friedlich ausgesehen.«
»Das hatte möglicherweise damit zu tun, dass die Folter zu
Ende war«, sagte Archie. Er zog seine Hand zurück, setzte sich auf und
stellte die nackten Füße auf den Boden. »Ich muss ins Bad«, sagte er.
»Und dann brauche ich etwas zu essen.« Es war gelogen. Aber wenn sein
Plan funktionieren sollte, musste er Gretchen ins Wohnzimmer kriegen.
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S ie werden was tun?«, fragte Susan. Sie
trug grüne Krankenhauskleidung und war in der Notaufnahme im Emanuel
Hospital. Sie nahm die Sauerstoffmaske ab und sagte es noch einmal.
»Sie werden was tun?«
»Ich werde ihre Nase wieder gerade richten«, sagte der Arzt.
Susan war sich ziemlich sicher, dass er achtzig war. Als er vorhin
hereingekommen war, hatte sie gedacht, er sei einer von diesen alten
Leuten, mit denen die Krankenhäuser oft den Kiosk besetzen.
»Mit Ihren Händen?«, fragte sie entsetzt.
»Ja.« Er streckte die Hand aus, und ehe sie sich wehren
konnte, hatte er ihre Nase mit beiden Händen gepackt. Es gab einen
scharfen Schmerz, und sie stieß einen erstickten Laut aus, dann ließ er
die Hände sinken und lächelte.
»Na, sehen Sie«, sagte er. »War doch gar nicht so schlimm,
oder?«
Susan hob die Hände ans Gesicht. »Au«, schrie sie.
»Die Schwester wird Sie schienen und bandagieren, anschließend
können Sie wieder gehen.«
»Bekomme ich keine Schmerzmittel?«, fragte Susan.
Der Arzt tätschelte ihr die Hand. »Eis und Ibuprofen, das
genügt vollauf.« Er sah Henry an, der darauf bestanden hatte,
mitzukommen; er saß auf einem Stuhl neben dem Untersuchungstisch. »Ist
das Ihr Mann?«
»Nein«, antworteten beide rasch.
Der Doktor wandte sich der Tür zu. »Die Leute heiraten
heutzutage einfach nicht mehr«, sagte er beim Hinausgehen.
Die Schwester lächelte. Sie war groß, mit nach hinten
gekämmtem, dunklem Haar, das von einer Klammer zusammengehalten wurde,
und Zügen, die sich zur Gesichtsmitte hin knautschten. »Er ist noch
alte Schule«, sagte sie. »Er setzt nicht einmal Narkose ein.«
Susan berührte ihre Nase. Sie pochte, sobald sie nur leicht
mit dem Finger darüberstrich. Ihre Mutter war von zwei Streifenbeamten
ins Arlington zurückgebracht worden. Notaufnahmen verkraftete sie
ohnehin nicht. Susan war sich nicht sicher, ob die Beamten den Auftrag
hatten, Bliss zu schützen
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