Gregor und der Spiegel der Wahrheit
schon bald einnickte, doch er konnte nicht schlafen. In den stillen, dunklen Tunneln drängte sich die Schlacht wieder in seine Gedanken. Diesmal erinnerte er sich besser an die Einzelheiten als damals nach dem Kampf gegen die Tintenfische, von dem er jetzt so gut wie nichts mehr wusste. Diesmal hatte er ganz genaue Bilder seines Schwerts vor Augen, wie es eine Ameise nach der anderen durchtrennt hatte. Wer waren die Ameisen überhaupt? Nicht bloß Tiere, nicht bloß eine Naturgewalt. Ripred hatte sie als intelligente Wesen beschrieben, die einen klugen Schlachtplan entwickelt hatten. Hatten sie Namen? Hatten sie Eltern und Kinder und Freunde? Wen hatte er da genau getötet?
Er wurde aus seinen Gefühlen nicht richtig schlau. Während der Schlacht hatte er nur daran gedacht, den Sternschatten zu retten. Sein Leben hatte auf dem Spiel gestanden – es hätte ihm genauso ergehen können wie Hamnet und Frill. Doch Gregor hatte weniger um sein Leben gekämpft als um das, was er für das Heilmittel hielt. Es gab Situationen, in denen man kämpfen musste … Selbst Hamnet hatte das eingesehen … und offenbar war er der Meinung gewesen, dass das heute so eine Situation war. Gregor hatte getan, was er tun musste. Trotzdem … es war schrecklich, an die verdrehten Körper der Ameisen auf dem Schlachtfeld zu denken.
Und obwohl Gregor gewütet hatte, war es ihnen nicht gelungen, den Sternschatten zu retten. Wenn es keinen anderen Ausweg gab, hatte auch Hamnet gekämpft, aber Gregor wusste, dass er das eigentlich nicht wollte. Er hatte nicht daran geglaubt, dass man damit Probleme lösen konnte. Wenn sie alle so gedacht hätten, wäre es ihnen vielleicht gelungen, die Prophezeiung zu entschlüsseln. Dann würden jetzt nicht all die Leichen daliegen und darauf warten, von den Lianen bedeckt zu werden. Doch wie hätte eine friedliche Lösung aussehen können? Als die Ameisen auf sie zumarschierten, war es zu spät gewesen, darüber nachzudenken. Sie hätten sich schon vor längerer Zeit etwas einfallenlassen müssen. Und so viele Gruppen – die Menschen, die Ratten, die Ameisen –, alle zusammen hätten sich einigen müssen.
All das wurde noch durch die Tatsache kompliziert, dass, wenn Gregor mit seinem Verdacht gegen Doktor Neveeve richtiglag, das Sterben heute völlig sinnlos gewesen war. Denn das, worum sie gekämpft hatten – der Sternschatten –, war überhaupt nie das Heilmittel gewesen.
Je länger er nachdachte, desto mehr drehte sich alles in seinem Kopf. Es war richtig, dass wir gekämpft haben. Es war falsch, dass wir gekämpft haben. Wir mussten kämpfen. Es war ein sinnloser Kampf. Er wusste einfach nicht, wo er stand, und das machte ihn verrückt. Kein Wunder, dass Hamnet in den Dschungel geflüchtet war.
Nachdem Gregor sich mehrere Stunden mit den Ereignissen des Tages gequält hatte, sah er in der Ferne Lichter flackern. Regalia lag direkt vor ihnen. Eine Gruppe von vier Unterländern tauchte auf und schnitt ihnen den Weg ab. Dann sahen sie Luxa.
»Königin Luxa!«, rief eine der Wachen ungläubig. »Ihr lebt!«
»Ja, ich lebe, Claudius«, sagte Luxa. »Und ich muss augenblicklich Zugang zum Rat haben. Es geht um das Heilmittel für die Plage.«
»Ja, selbstverständlich«, stammelte Claudius. »Doch es gibt mehrere Kontrollstellen, wo alle untersucht werden, die die Pest in die Stadt bringen könnten.«
»Im Hinblick auf die knappe Zeit müssen wir sie umgehen. Glaube mir, selbst wenn ich die Pest hätte, würde diese Tatsache verblassen angesichts der Neuigkeiten, die ich euch bringe«, sagte Luxa.
»Ja, aber wir haben strikten Befehl …«, sagte die Wache.
»Den ich hiermit aufhebe«, sagte Luxa. »Gewährt mir freien Zutritt zur Stadt. Dies ist ein direkter Befehl, für den ich die volle Verantwortung trage.«
Zögernd schaute Claudius zu den anderen Wachen, dann rief er: »Freien Durchgang für die Königin!« Er flog mit ihnen und winkte alle, die sich ihnen in den Weg stellen wollten, beiseite. »Die Königin! Die Königin kehrt zurück!«, rief er, und die Unterländer machten ihnen Platz.
Als sie über Regalia flogen, sah Gregor, wie unten Leute standen und auf sie zeigten und riefen. Wahrscheinlich erkannten sie Aurora an ihrem prächtigen goldenen Fell und dachten sich, dass Luxa auf ihr flog.
Als die erschöpften Fledermäuse auf dem Bauch durch die Hohe Halle rutschten, liefen zwei weibliche Wachen herbei, um ihnen zu helfen.
»Bringt Aurora und Nike sofort ins
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