Gregor und die graue Prophezeiung
Aus den Rattenschreien, die darauf folgten, schloss er, dass Luxa, Aurora und Ripred zum Angriff übergegangen waren, um ihn zu decken. Aber ganz bestimmt war jetzt jede Ratte, die nur irgendwie laufen konnte, hinter ihm her. Gut. So konnten die anderen mit ein wenig Glück entkommen. Außer Henry und Ares – was mit ihnen geschah, war ihm egal.
Das Licht der Taschenlampe wurde zu einem schwachen Glimmen, und er warf sie fort. Sie behinderte ihn sowieso beim Laufen. Aber es war nicht gut, im Dunkeln zu laufen. Er könnte stolpern, und er musste die Ratten so weit wie möglich von den anderen weglocken. Da fiel ihm das Licht in seinem Helm ein. Das hatte er für Notfälle aufheben wollen. Einen dringenderen Notfall als diesen konnte es kaum geben. Ohne das Tempo zu verlangsamen, schaltete er das Licht an, und der kräftige Strahl erleuchtete den Weg vor ihm.
Aber der Weg! Er hatte vergessen, wie kurz der Weg war! Kaum hundert Meter vor ihm wurde die Schlucht drohend sichtbar, die »unendlich steil in die Tiefe« ging.Er brauchte gar nicht erst zu versuchen, am Rand der Schlucht entlangzulaufen. In wenigen Sekunden hätten die Ratten ihn eingeholt.
So wollte er nicht sterben. Die Genugtuung, ihn zu fressen, gönnte er den Ratten nicht. Er hörte sie hinter sich keuchen und mit den Zähnen schnappen. König Gorger schnaubte wütend.
In einem furchtbaren Moment begriff Gregor den letzten Teil der Prophezeiung.
Drum mahnt ihn zur Vorsicht, sonst springt er daneben,
denn Leben kann Tod sein, und Tod erschafft Leben.
Er musste springen, und durch seinen Tod würden die anderen leben können. Das war es. Das hatte Sandwich mit diesen Zeilen sagen wollen, und inzwischen glaubte er Sandwich.
Er legte einen letzten Sprint ein, genau so, wie sein Trainer es ihm beigebracht hatte. Er gab alles. Bei den letzten Schritten vor der Schlucht spürte er einen stechenden Schmerz hinten im Bein, und dann gab der Boden unter seinen Füßen nach.
Gregor der Überländer sprang.
25. Kapitel
G regor warf sich über die Schlucht, er sprang, so hoch er konnte, in die Luft. Er spürte, wie ihm warmes Blut am Bein herunterlief. Eine der Ratten hatte ihm beim Absprung eine Klaue ins Bein gehauen.
Ich falle, dachte Gregor. Genau wie beim Fall ins Unterland. Mit dem Unterschied, dass er jetzt sehr viel schneller fiel. Da war keine Strömung, die ihn von unten stützte, nur die hässliche klaffende Leere unter ihm. Er hatte nie begriffen, warum er beim ersten Mal sicher gelandet war. Es hatte sich nie ein ruhiger Moment ergeben, um Vikus danach zu fragen. Jetzt würde er es wohl nie mehr erfahren.
Vielleicht gehörte das alles doch zu ein und demselben Traum, und er würde in seinem Bett aufwachen und zu seiner Mutter gehen und ihr davon erzählen. Doch Gregor wusste, dass es kein Traum war. Er fiel wirklich. Undwenn er unten aufkam, würde er nicht in seinem Bett aufwachen.
Noch etwas war anders als bei seinem ersten Fall. Es hörte sich so an, als hätte er sehr viel mehr Gesellschaft.
Als es Gregor gelang, sich in der Luft umzudrehen, sah er im Strahl des Lichts in seinem Helm eine erstaunliche Szene. Wie eine Lawine kamen die Ratten, die ihn verfolgt hatten, und das mussten so ziemlich alle gewesen sein, hinter ihm her. Der unsichere Boden am Rand der Schlucht hatte nachgegeben und die ganze Armee mit sich gerissen.
Entsetzt sah Gregor, dass unter den Ratten ein Mensch war. Henry. Auch er hatte Gregor verfolgt. Aber das konnte nicht sein. Sie konnten nicht beide sterben. Der Prophezeiung zufolge starb nur noch einer aus der Gruppe.
Ein Flügelschlag gab Gregor die Antwort. Natürlich. Es war Ares, die Fledermaus, die mit dem Verräter verbunden war. Ares würde Henry retten und damit war die Prophezeiung erfüllt. Und die übrigen Suchenden würden auch in Sicherheit sein.
Gregor hatte Ares noch nie richtig im Sturzflug gesehen. Mit sagenhafter Geschwindigkeit sauste er in die Tiefe und wich den Ratten aus, die ihn zu fassen versuchten. Gregor kamen Zweifel, ob Ares sich wieder hochziehen könnte. Er ist übers Ziel hinausgeschossen, dachte Gregor, als die Fledermaus wie eine Rakete an Henry vorbeischnellte.
Er hörte Henry verzweifelt flehen: »Ares!«
In diesem Moment knallte Gregor mit etwas zusammen.
Ich bin tot, dachte er, aber so fühlte es sich nicht an, denn seine Nase tat weh und er hatte den Mund voller Fell. Als er spürte, wie er aufstieg, wusste er, dass er auf Ares’ Rücken saß. Er schaute über den
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