Greifenmagier 1 - Herr der Winde
endlich ihre Sprache wieder. »Ich denke ... Jos, ich denke, dass es nicht so einfach ist ...« Sie drehte sich um und legte Opailikiita fast blind die Hand auf die Schulter. Sie dachte an die Begeisterung des Fliegens, wenn die schlanke Greifin sie trug, an die Wärme in Opailikiitas Stimme, wenn sie Schwester sagte. Kes fiel auf, dass sie aufgehört hatte, sich zu fragen, ob dieser Begriff bei ihnen beiden zutraf. Er entsprach jetzt der Wahrheit. Sie dachte jedoch auch, dass es keine Wahrheit sein konnte, wenn sie nicht zugleich Tesme als Schwester verlor. Wenn sie die Wüste zu lieben lernte, wandte sie sich ein für alle Mal von menschlicher Liebe ab. Unvermittelt wurde ihr klar, dass sie es nicht ertragen könnte, entweder ihre Erdnatur oder ihre Feuernatur aufzugeben. »Vielleicht kann ich beide behalten«, flüsterte sie. »Kann ich nicht einfach zwischen beiden bleiben? Kann ich nicht beide Welten behalten?«
Jos presste die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen und traf Anstalten, zu ihr zurückzukehren.
»Wenn ihr alle bitte warten würdet!«, mischte sich eine strenge Stimme ein, die Kes sofort erkannte.
Alle drehten sich eilig um. Pfeil- und Speerspitzen blitzten erneut auf, und Licht spiegelte sich in kurzen, heftigen Glitzerfunken auf Metall.
Kairaithin stand auf einer kleinen freien Fläche, die sich sofort allein schon durch die kaum gezügelte Kraft bildete, welche er ausstrahlte wie die Wüstensonne ihre Wärme. Er trug Menschengestalt, hatte aber noch nie weniger nach einem Menschen ausgesehen. Die herben Züge des Menschengesichts verbargen kaum die grimmigen Adleraugen und den grausamen Raubvogelschnabel; die langen Hände hätten auch gleich Krallen sein können. Sein Schatten entsprach ganz dem eines Greifen: Unwirkliche Federn raschelten im Wind, und der Schatten musterte alle Umstehenden mit feurigen Augen.
Der schmale Streifen aus Sand und Wärme, den Opailikiita erzeugt hatte, breitete sich geschwind in beide Richtungen aus, sodass sich eine viel breitere Verlängerung der Wüste ausbildete; und ein heißer Wind trug roten Staub heran, der flüsternd über die Erde strich. Kairaithin stand auf Sand; der Wind bewegte seine Kleidung und peitschte seine Haare mit unvermittelter Wucht. Der Wind erreichte den König, der nun blinzeln musste und eine Hand hob, um die Augen vor dem Staub zu schützen. Männer in der ganzen Truppe taten das Gleiche, als die Wüste auf einmal das ganze Gebiet umfasste, auf dem sie alle standen. Die Luft roch nach heißem Metall und geschmolzenem Gestein. Opailikiita schüttelte sich, streckte sich und legte sich in den Sand; sie schien sich sogleich viel wohler zu fühlen. Kes verstand, wie die Greifin empfand. Auch für sie hatte es den Eindruck, als wäre die Welt auf einmal größer geworden.
Die alte Magierin des Königs bewegte sich auf ihrem Stuhl.
Kairaithin reagierte sofort darauf. Kleine Flammen sprangen vom Boden zu seinen Füßen hoch und zerzausten ihm die Haare. Seine in der Wüste verankerte Macht donnerte geräuschlos und wuchtig durch die Luft, die dann selbst nach Feuer schmeckte. »Setze mich nicht unter Druck!«, blaffte er die Magierin an. »Jetzt ist nicht die richtige Zeit dafür. Feuer und Luft - könnt ihr Erdmagier die eigenen Neigungen nicht beherrschen?«
»Doch«, antwortete die Frau, ohne irgendeine Kränkung erkennen zu lassen. »Wenn wir einen vernünftigen Grund dafür haben. Ich fordere dich nicht heraus. Kannst du deine Macht nicht ein wenig abmildern, Greifenmagier?«
Die angespannten Linien um Kairaithins Mund lockerten sich nicht, aber der Wind erstarb langsam, und das Feuer zu seinen Füßen sickerte wie Wasser in den Sand zurück. Er wandte der Frau und dem König den Rücken zu, trat mit drei langen Schritten an Kes heran und packte sie an den Schultern. Manche der Männer rührten sich - Jos schien eindeutig an Kes' Seite zurückkehren zu wollen -, aber der König hob gebieterisch die Hand, und niemand traf Anstalten, sich einzumischen.
Kairaithin war, wie Kes bemerkte, sehr zornig. Ungeheuer zornig. Sie wäre am liebsten davongeschlichen, konnte es aber nicht. Sie wollte sich in irgendeinem kleinen Schatten verstecken, der ihr vielleicht Zuflucht bot, und konnte es nicht. Sie starrte in die grimmigen Augen des Greifen und bemühte sich, nicht erkennbar zurückzuprallen.
»Du bedeutest alles«, erklärte ihr der Greif rau. »Du bist meine Hoffnung, mein Volk retten zu können, und ich finde dich hier! In
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