Greifenmagier 1 - Herr der Winde
Wüstenstille, wie sich der Sturm aus Zorn und Sehnsucht langsam legte. Sie dachte, dass aller Kummer, alle Gefühle womöglich am Ende mit dieser machtvollen Stille eins würden - dass die Wüstenstille womöglich alle Dinge umfasste. Kes entdeckte in sich eine starke Sehnsucht nach dieser Stille und hieß sie willkommen, während sie sich um sie legte. Die Stille der Wüste dämpfte Erinnerungen und Leid. Kes dachte: Die Wüste ist ein Garten, in dem Zeit und Stille blühen. Dann jedoch konnte sie sich nicht daran erinnern, wo sie diese Zeile gehört hatte oder ob sie aus der Historie, einem Gedicht oder einer Geschichte stammte, die Tesme ihr vielleicht vor langer Zeit erzählt hatte. Nur dass die Zeile nicht danach klang, als passte sie zu der Art von Erzählung, die Tesme vortrug.
Zeit und Stille. Zeit und Stille wuchsen im Dunklen und blühten in einer körperlosen Schönheit, die beinahe eine stoffliche Präsenz zu haben schien. Kes starrte in die tiefe Wüstennacht und wartete auf das, was dort erblühen würde.
Genau das war der Ort, wo die Kaltmagier von Casmantium sie im weichen grauen Licht fanden, das zum Morgen hin der machtvollen Sonne kurz vorausging.
Das Erste, was Kes von den casmantischen Magiern sah, war eine Verdunkelung der Wüste: ein Schatten, der sich auf einmal über den Sand hinweg ausbreitete, eine kältere und fremdere Dunkelheit, als die Nacht selbst mit sich gebracht hatte. Dann sah Kes erschrocken, wie Frost zu ihren Füßen über den Sand lief und sich auf den Stein neben ihrer Hand legte.
Sie erhob sich hastig. Der Raum schien um sie zu schrumpfen, als wäre die grenzenlose Weite der Wüste auf einmal umschlossen. Sie schauderte und tastete in ihrem Rücken nach der Festigkeit des Gesteins, zuckte aber vor der Kälte darin zurück, auf die ihre Hand stieß.
Eine Stimme sprach aus dem Halblicht Worte, die Kes nicht verstand. Sie sah auch den Sprecher nicht, wandte aber den Kopf blind in seine Richtung. Für ihre Ohren klang die Stimme nicht angenehm. Sie schien erfüllt von Eis und üblem Trachten.
Eine weitere Stimme, die tiefer und rauer, aber nicht so unangenehm war, antwortete der ersten. Männer ragten auf einmal im grauen Licht auf, näher, als Kes erwartet hatte. Sie war voller Angst, und endlich fiel ihr ein, dass sie sich ja durch die Welt versetzen konnte. Als sie sich jedoch auf diese Weise fortbewegen wollte und nach der Wärme und der Stille griff, die dieser Bewegung Gleichgewicht verlieh, fand sie nichts. Eine Kälte lag zwischen ihr und dieser Fortbewegungsform. Sie versuchte, nach Art der Greifen lautlos nach Opailikiita oder Kairaithin zu rufen, aber dieser Ruf verhallte ungehört im eigenen Bewusstsein.
Die erste Stimme sprach erneut und lachte. Kes schauderte bei diesem Klang. Sie begriff auf einmal, dass die kalte Stimme einem Magier gehörte, und gleichzeitig wurde ihr klar, dass sie sich vor ihm fürchtete. Er war ganz anders als Kairaithin; und obwohl er ein Mensch und somit von Kes' Art war, hielt sie ihn für unendlich viel furchterregender als den Greifen.
Die raue Stimme antwortete, und ein Mann, dessen dunkle Gestalt sich massig vor dem Himmel abzeichnete, trat vor und umfasste mit der Hand ihren Arm. Kes erschrak über diese Berührung und zuckte zurück, woraufhin der Mann seinen Griff lockerte. Die raue Stimme sprach erneut, aber diesmal drückte sie etwas Beruhigendes aus. Trotzdem konnte Kes einfach nicht aufhören zu zittern. Aber ihre Furcht legte sich, und sie versuchte nicht weiter, sich aus dem Griff zu befreien. Als der Mann ihr die Hand unters Kinn legte und das Gesicht hob, schloss sie zwar die Augen, widersetzte sich aber nicht. Er sagte kurz etwas, das jedoch nicht an sie gerichtet war, und dann wieder etwas zu ihr. Ihm gehörte die raue Stimme; allerdings schien er sich zu bemühen, freundlich zu ihr zu sprechen. Er schüttelte sie ein wenig, nicht heftig, und wiederholte seine Worte. Langsam wurde ihr bewusst, dass die Laute seiner Sprache ihr nicht ganz unbekannt waren. Sie begriff, dass es sich dabei um das raue, abgehackte Praken Casmantiums handelte und er ein Casmantier war. Dass alle diese Männer Casmantier waren.
Etwas weiter entfernt im matten Licht redeten andere Menschen - entweder zu dem Mann, der sie festhielt, oder miteinander; sie wusste es nicht. Die kalte Stimme meldete sich erneut zu Wort, und Kes zuckte wieder zusammen. Schnell öffnete sie die Augen, voller Angst, den kalten Mann in der Düsterkeit gleich neben
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