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Grenzgang

Grenzgang

Titel: Grenzgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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Zuviel sitzen. Jetzt bin ich Frührentner und Pärchenclubbesitzer, worüber soll ich mich beklagen?«
    Kerstin nickt. Vielleicht ist er etwas weniger sensibel, als sie aus dem Anflug von Traurigkeit in seinem Blick hat herauslesen wollen.
    Die neuen Gäste werden von Gerd mit einem über die Schulter Richtung Durchgang zeigenden Daumen begrüßt. Ein Pärchen, erkennt Kerstin, als sie an der Theke vorbeikommen, das dunkelhaarige Gegenstück zu den beiden Blonden. Der Mann trägt die gleiche knielange Stretchhose, wie Radfahrer sie tragen, treibt viel Sport und liegt regelmäßig unter der Höhensonne. Und er kaut Kaugummi auf die Art, die sie früher versucht hat Daniel abzugewöhnen. Seine Partnerin ebenso. Leggins und eine Art Sport-BH. Unbeschwertheit und Stolz auf die eigene Figur. Hand in Hand gehen sie um die Theke, sagen »Hallo Gerd« und verschwinden Richtung Matratzen. Der Eindruck eines drachenförmigen Tattoos über einem aparten Frauenhintern ist alles, was von ihnen bleibt.
    Hinter den Yucca-Palmen macht Kerstin erneut eine Bewegung aus und wendet den Blick ab. Sie hat keine Lust, Viktoria noch einmal zu sehen. Ein profundes Gefühl von Vergeblichkeit macht sich in ihr breit. Karin Preiss entdeckt offenbar gerade die Möglichkeiten des verpflichtungsfreien Partnertauschs, und sie hockt auf ihrem Barhocker, den eine schlammige Flut immer mehr zu einer Insel macht, von der es kein Entrinnen gibt. Der Wodka schmeckt furchtbar, wie destillierter Kunststoff. Gegenüber legt die Frau den Kopf in den Nacken und macht ein Geräusch, dem zufolge einer der beiden Kerle seine Hand dort hat, wo sie es am liebsten mag. Die Bewegung vor dem Dunkelbereich ist eingefroren. Vermutlich untersagt Viktoria ihrerBeute das Verlassen ihres Territoriums. Ihre Nase erinnert an einen Adler, aber ihr Verhalten gleicht dem einer Spinne, die mit sicheren, tödlichen Bewegungen in ihrem Netz agiert.
    Wie lange wird sie jetzt auf Karin warten müssen?
    Sie fühlt sich selbst wie in einem Spinnennetz gefangen und was in ihr aufwallt, ist weniger der Mut als die Wut der Verzweiflung. Warum nicht dem Blick begegnen, der dort von den Yucca-Palmen ihre Richtung eingeschlagen hat? Warum nicht mit einer entschlossenen Geste in die Richtung deuten, in die Gabi und Karin verschwunden sind? Hat sie noch was zu verlieren? Ja, aber es ist ihr egal. Aufstehen, den letzten Schluck Wodka kippen und sich dann dem Schicksal ausliefern. Wie auch immer der Kerl aussieht, der dort steht. Sie wird ihm bedeuten ihr zu folgen, noch bevor Viktoria ihn zurückhalten kann, wird ohne sich umzuschauen einen der hinteren Räume betreten, sich mit dem Rücken zur Tür ihres Kleides entledigen und einfach warten, dass er von hinten an sie herantritt und tut, was zu tun ist. Kalt und eckig, wie ein langsam tauender Eisklotz, liegt ihr der Wodka im Magen. Lust hat sie keine, aber sie will Hände auf ihren Brüsten, am besten fremde. Sie will diese Mischung aus Sieg und Erniedrigung. Im Aufstehen hebt sie den Blick.
    Den spitzen Schrei, der ihr entfährt, hört sie selbst mit einer Sekunde Verspätung. Registriert ihre Hand auf dem Mund und die Blicke, die sie von überall treffen. Alle im Barraum sehen sie an. Alle bis auf Thomas Weidmann. Der steht wie erstarrt zwischen den Yucca-Palmen, in einem weißen offenen Hemd, das seine Brustbehaarung erkennen lässt. Wie ein Schlagersänger auf einer schäbigen Bühne steht er dort und sieht auf seine Füße, als hätte er mitten im Lied seinen Text vergessen. Sie will lachen und hat Angst, sich auf der Stelle zu übergeben. Sie will weinen und muss aufs Klo. Hinter ihm sieht sie Viktorias Gesicht aus der Dunkelheit auftauchen, bedrohliche Neugier in den schwarzen Augen.
    Alles ist vorbei, liegt in Scherben und wird ewig so bleiben. Flüstern beginnt die Stille nach ihrem Schrei zu füllen. Gerdkommt auf sie zu, und sie spürt ein Zittern in den Beinen, hält sich am Rand der Theke fest und fragt sich, ob sie es überhaupt bis zum Auto schaffen wird.

Dritter Teil
… in Ewigkeit.

10
    Mit einem Handtuch um den Körper stand sie im Schlafzimmer und sah hinaus in die im Sinken begriffene Sonne. Spürte das Pulsieren der Müdigkeit in Schenkeln und Waden. Die Musik wehte so leise über den Ort, dass Kerstin einen Moment lang nicht wusste, ob das Geräusch vielleicht nur ihrer Erinnerung entsprang. Die Balkontür war angelehnt, im Garten wuchsen die Schatten, und unten auf der Terrasse hörte sie, wie ihre Mutter mit Daniel

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