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Grenzgang

Grenzgang

Titel: Grenzgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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in die Tasche steckt. Im selben Moment klingelt sein Telefon, und Kerstin fragt:
    »Wo bleibst du?«
    »Du hast keine Ahnung, was hier los ist. Ganz Bergenstadt kauft ein.«
    »Es ist halb sieben.«
    »Ich weiß. Ich bin auf dem Weg zum Auto. Schönen Gruß von Karin übrigens.«
    »Brauchst du deshalb so lange?«
    »Ich sage doch …« Er hat sein Auto erreicht und Schwierigkeiten, den Schlüssel mit der linken Hand aus der rechten Hosentasche zu ziehen.
    »Ist ja auch egal. Für das Abendessen ist es sowieso zu spät.«
    »Es tut mir leid.«
    Kerstin seufzt.
    »Findest du nicht, dass wir manchmal eine unglückliche Figur abgeben?«
    »Wir bemühen uns.« Auch das Umladen der Einkäufegestaltet sich schwierig mit einer Hand, zumal der Boden leicht abschüssig ist und der Einkaufswagen beharrlich zum Nachbarauto strebt. Weidmann spürt Schweiß auf seine Stirn treten und Widerwillen gegen das Gespräch in sich aufkommen. Zwei Polizisten stehen rauchend vor dem Eingang der Station und geben ihm das Gefühl, das Objekt spöttischer Bemerkungen zu sein.
    »Bemühen, ja. Ich finde manchmal, du könntest etwas größere Anstrengungen machen. Größere Anstrengungen im Kleinen sozusagen.«
    »Ja«, sagt er. Seine Lust am Geständnis ist größer, wenn er alleine ist mit sich, aber für heute hat er das Maß tolerierbarer Verfehlungen ausgeschöpft. Er schließt den Kofferraum und bringt den Einkaufswagen zurück zum Depot, mit einem Ohr immer noch seiner Frau beim Nachdenken zuhörend. »Bist du noch dran?«
    »Ist ja nicht mein Stil, einfach aufzulegen.«
    »Wir gehen heute Abend in Frankfurt schick essen und machen den Grillabend morgen. Mit mehr Zeit.«
    »Morgen ist Kommers.« Sie hat längst denselben Entschluss gefasst, das spürt er, aber die Regeln des Spiels verlangen das Anführen von Gegenargumenten.
    »Niemand von uns ist besonders scharf auf den Kommers. Wenn wir nach dem Essen hingehen, ist es früh genug.«
    »Warum bin ich so nervös?«, fragt sie.
    »Weil du deinen Sohn so lange nicht gesehen hast.«
    »Ich könnte mich einfach freuen.«
    »Tust du auch. Man freut sich manchmal bangen Herzens.«
    »Ich leg jetzt auf und heule kurz, und du beeilst dich bitte. Das Essen hab ich abgeschrieben, aber wenn wir zu spät zum Flughafen kommen, bring ich dich um.«
    »Ich fliege«, sagt er und legt als Zweiter auf. Auf dem Parkplatz nimmt der Betrieb langsam ab. Alles strebt nach Hause. Die Leute haben was vor, die haben ein Ziel und ziehen ihre Kinder hinter sich her, wenn sie mit verträumtem Blick stehen bleiben. So wie er. Er hat sich schon mal darüber gewundert,aber er weiß nicht mehr wann, und vielleicht ist es auch nur, weil Karin Preiss von Déjà-vu gesprochen hat. Es gibt nichts, worüber er sich wundern müsste: Die Leute tun das Selbstverständliche und Alltägliche und sind froh, dass der Grenzgang beginnt. Die Zeit des Wartens ist vorbei. Der Tag neigt sich dem Ende, und die Stadt ist geschmückt. Nur ihm läuft der Schweiß über den Rücken, er steht reglos inmitten der Geschäftigkeit, und für einen Moment glaubt er gar nicht, dass schon wieder sieben Jahre vergangen sein sollen.

Epilog
    Dann endlich ist Grenzgang.
    Von außen betrachtet, drängt sich ein Eindruck auf, den Kerstin nicht zu benennen vermag, jedenfalls nicht genau. Können die wirklich wie auf Kommando so ausgelassen und fröhlich sein, wenn das Ereignis eintritt, dem sie den ganzen Sommer über entgegengefiebert haben? Diese Eintracht aus Menschen und Wald kommt ihr unglaubwürdig vor, aber vielleicht liegt es daran, dass sie nicht mit gewandert ist, sondern am Marktplatz den Bus genommen hat und zum Frühstücksplatz gefahren ist. Wäre sie gewandert, würde das Bier frischer schmecken und sie wäre näher dran am Geschehen, aber immerhin legen schon die ersten Schlucke diesen unsichtbaren Schleier über ihre Sinne, hinter dem der Trubel ein wenig abrückt. Kein Buhlen um Aufmerksamkeit, sie sitzt wie in ihrer eigenen Lichtung und legt eine Hand über die Augen, gegen die Sonne. Schaut über den Platz auf der Suche nach bekannten Gesichtern und beginnt zu schwitzen.
    Sie hat viel nachgedacht in den vergangenen Wochen, und dabei ist ihr das Grundmuster aufgefallen, nach dem ihr Leben sich schon so lange vollzieht. Eine Art Selbstbestimmung gegen den eigenen Willen, im Kleinen wie im Großen. Sie hätte was Helleres anziehen können, zum Beispiel, hat sich aber nicht getraut. Hätte sich nicht so einengen lassen sollen von den

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