Grenzgang
Blusenausschnitt und ansonsten die Art von Wanderkleidung, die man eigentlich nur in Katalogen trägt: Ton in Ton und offenbar zum ersten Mal. Nirgendwo eine Spur von Abnutzung, außer um ihre Augen. Auch kein Rot mehr in den Haaren. Sie sieht aus, als ginge sie unberührt durchs Leben, ganz merkwürdig, wenn man ihr Alter bedenkt – was Kerstin hinter vorgehaltener, das leere Bierglas drehender Hand tut.
»Es täte mir sehr leid, wenn diese Sache …«, setzt Karin an und gleich wieder ab.
»Wie du weißt, gab es in meinem Leben in letzter Zeit einschneidendere Ereignisse«, sagt sie und beobachtet einen Marienkäfer auf ihrer Schuhspitze.
»Meinen Brief hast du aber bekommen?« Eine Trauerkarte, eher konventionell und nicht besonders persönlich, dafür mit viel zu viel Geld im Umschlag. Kerstin könnte jetzt darauf hinweisen, dass die dunkelblaue Bluse, die sie trägt, vom Geld aus diesem Umschlag gekauft wurde, aber sie hat weder Lust darauf, das zu sagen, noch auf das ›Zeig mal‹ und ›Steht dir gut‹ und eigentlich auf kein weiteres Wort. Und trotzdem ist sie froh, dass sie endlich reden.
»Vielen Dank. Ich hatte bloß noch keine Zeit, zu antworten.«
»Versteh ich.«
Noch einmal schaut Thomas Weidmann her, aber jetzt kann sie ihm kein Zeichen mehr geben, sondern nur noch seinen Blick erwidern, auf dass sie sich treffen irgendwo über den Köpfen der anderen.
»Es gibt was, was ich mit dir besprechen will«, sagt Karin. »Eine Idee.«
»Eine Idee.« Sie spürt ganz genau, wie sie kein Fragezeichen mitspricht. Keine Neugier verrät und auch keine empfindet. Ideenfreie Zone hier am Rand des Frühstücksplatzes. Ihren Sohn sieht sie beim Bierpilz der Burschenschaft Rehsteig, alleine und mit kühler Unnahbarkeit im Gesicht, die sie gerne getauscht hätte gegen seinen alten, zornigen Pubertätsblick.
»Alleine schaff ich’s nicht, aber zusammen könnten wir das hinkriegen.«
»Wir.«
»Soll ich ganz vorne anfangen oder …?«
»Sag mir einfach, worin die Idee besteht.«
»In einem Tanzstudio.«
Zum Glück ist Karin so fixiert auf ihre Worte, dass sie das Ausbleiben einer Reaktion überhaupt nicht bemerkt. Sie vergewissert sich auch nicht mit Blicken, ob sie verstanden wurde, sondern schaut über den Platz und hinein in den opaken Sonnenschein über Bergenstädter Hügeln. Kerstin überlegt, ob sie die zweite Etappe des Tages mitwandern soll, statt den Bus zurückzunehmen. Sie hat Lust auf Bewegung und vorsichtshalber Schuhe angezogen, die einen längeren Marsch erlauben. Es gibt schließlich kein Gesetz, das die Teilnahme an Volksfesten während der Trauerzeit untersagt.
Karin seufzt.
»Ich mach’s kurz: Die Firma ist hin. Es ist noch nicht offiziell, und du musst es für dich behalten, aber es ist definitiv: Konkurs. Nichts mehr zu holen. Und damit nicht alles an die Bank geht, wird jetzt auf mich überschrieben, was von Wert ist. Stell dir vor, sogar Hans-Peters BMW gehört offiziell mir. Nicht dass ich ihn fahren dürfte, aber … Und ebenso das alte Firmengebäude in Karlshütte. Das ist erstaunlich gut erhalten, gut isoliert und trocken. Vor zwei Tagen bin ich hingefahren, einfach so, wollte mal wissen, ob man Dinge anders anschaut, wenn sie einem gehören.« Sie hat hastig gesprochen, um nicht dort pausieren zu müssen, wo es weh tut, aber jetzt hält sie inne und fragt: »Was meinst du?«
»Ob die Dinge …?«
»Natürlich nicht. Beton ist Beton oder in diesem Fall Backstein. Aber mein spontaner, verrückter und bei längerem Nachdenken vollkommen vernünftiger Gedanke lautet: Da machen wir ein Tanzstudio draus. Du leitest den Unterricht, ich das Geschäft. Wir zahlen keine Miete, und wir fangenklein an: Linda trommelt uns den ersten Kurs zusammen, Jazz-Tanz, Musicals, Vorbereitung für Casting-Shows und so was. Zielgruppe fünfzehn bis zwanzig. Dann was für die Älteren mehr im Gesundheitsbereich. Dafür melden sich die Rehsteigfrauen an, mindestens zur Hälfte, verlass dich auf mich. Und später vielleicht was für Paare, Standardtänze. Dieses verschlafene Nest braucht Schwung, und wir liefern ihn. Du und ich.«
Es ist beides, ein manischer Zug in Karins Wortschwall, der sie abstößt, und in der Gegenrichtung ein sanfter Sog, sich das Unvorstellbare einfach vorzustellen: den Eingang mit einem Schild darüber, Tanzstudio Sowieso, und einen verspiegelten, von Mädchengeschnatter erfüllten Raum. Und dann noch ein drittes, das merkwürdige Gefühl der Enteignung, wenn jemand
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