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Grenzgang

Grenzgang

Titel: Grenzgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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Bedenken und Ansprüchen anderer, sondern mehr ihren eigenen Bedürfnissen folgen. Hat sie aber nicht. Einmal entdeckt, kam es ihr beinahe wie das Motto der letzten zehn Jahre vor: Immer tun, was die anderen erwarten. Und obwohl sie nicht der Typ ist für radikale Veränderungen – auswandern nach Neuseeland, in eine Frauenkommune ziehen – hat sie gewusst, dass diese Entdeckung nicht folgenlos bleiben wird.
    Mach was du willst, war alles, was Daniel auf ihreErklärungsversuche erwidert hat. Es klang wie ausgespuckt und war auch so gemeint, aber zum ersten Mal in ihrem Leben als Mutter ist sie bereit, nicht zuerst an ihn zu denken.
    Sie trinkt einen kleinen Schluck Bier und sieht Thomas Weidmann in der Menge stehen, im Kreis von Kollegen aus der Schule. Granitzny ist dabei und wischt sich in einem fort die Stirn, während er das Wort führt und die anderen nicken. Mit gegen das Licht zusammengekniffenen Augen hält Kerstin das Bild fest und stellt sich selbst hinein, an seine Seite, hört zu und lacht mit. Sieht sich eine Hand auf seinen Arm legen, ihren Kopf gegen seine Schulter gelehnt, seinen Arm um ihre Taille. Dann nimmt sie das Bild und hält es gegen das warme Licht aus ihrem Garten, hinein in die offene Tür zu Wohn- und Schlafzimmer. Montage oder Möglichkeit? Da ist ein leeres Zimmer, in dem die Sachen ihrer Mutter in Kisten stehen und in das Daniel nicht zurückwill, ohne zu sagen warum. Und da ist das Wissen, dass das Haus am Rehsteig sich weiter leeren wird nach Daniels Abitur. Nach den Ferien geht er in die Oberstufe, und sie spürt jetzt schon diese Beschleunigung in seinem Leben, seine raumgreifenden, ungeduldigen Schritte weg von ihr. Jahrelang war sein Heranwachsen der Zeitmesser auch für ihr Leben, aber jetzt gibt es diesen Gleichschritt nicht mehr, und während sie ihm angstvoll hinterherblickt, kommt sie selbst gehörig ins Straucheln angesichts der simplen Frage: Was nun?
    Als Thomas Weidmanns Blick sich in ihre Richtung wendet, lächelt sie ihm zu, aber er scheint sie nicht bemerkt zu haben auf ihrem Beobachtungsposten unter den Bäumen. Zum ersten Mal sieht sie ihn mit aufgekrempelten Hemdsärmeln, in ungewohnt saloppem Aufzug. Drei Mal sind sie zusammen spazieren gegangen in den letzten Wochen, mehr nicht. Sie hat es nicht über sich gebracht, so unmittelbar Kapital zu schlagen aus dem Tod ihrer Mutter. Und ob seine Zurückhaltung eher auf Mitgefühl oder auf Zweifel beruht, weiß sie auch nicht.
    Gar nichts weiß sie und beginnt nur langsam zu ahnen, dass Ungewissheit nicht in jedem Fall zum Fürchten ist.
    Dann sagt Karin Preiss neben ihr »Hallo« und setzt sich schwerfällig ins Gras.
    »Hallo.« Kerstin ist überrascht, wie vertraut ihr der Duft dieses zu süßen Parfüms vorkommt, und horcht ihrer Stimme nach, ob sich Spuren von Groll und Missmut darin finden.
    Von beidem ein wenig, scheint ihr.
    Karin wirft einen Blick auf ihre Fingernägel.
    Es hat alles eine andere Tönung bekommen in den letzten Wochen, zu viel ist passiert in zu kurzer Zeit, als dass sie hätte den Überblick behalten können über ihre eigenen Gefühle. Wie bei diesen Experimenten mit Schlafentzug, in denen man sich Schritt für Schritt dem Zusammenbruch nähert. Sie hat nicht die Fassung verloren, als ihre Mutter gestorben ist, und es bei dem Maß an Tränen und Selbstvorwürfen belassen, das in solchen Fällen psychisch notwendig ist. Sehr wohl aber hat sie für einen gewissen Zeitraum ihre emotionale Energie für den Eigenbedarf eingesetzt, und das war eine überraschend angenehme Erfahrung. Daniels Einsilbigkeit hat sie mit Einsilbigkeit beantwortet und sich von Thomas Weidmann zum Abschied auf die Wange küssen lassen, ohne die Verschränkung ihrer Arme zu lösen. Wenn sie jetzt zurückschaut, kommen ihr die vergangenen vier Wochen vor wie eine ausgedehnte Leerstelle, die vage Grenze zwischen Davor und Danach, die aber nicht zu erkennen gibt, worin sich beide Seiten unterscheiden. Was davor war, ist zurückgeblieben und hat an Bedeutung eingebüßt, und deshalb würde sie lieber in Ruhe bedenken, was danach kommt, statt auf Karin Preiss’ Fragen zu antworten:
    »Bist du mir noch böse?«
    »Nein«, sagt sie. »Ich glaube nicht.«
    »Du klingst aber so.«
    Der Blick, den sie tauschen, kommt Kerstin bekannt vor, und sie will ihm durch einen weiteren Schluck Bier ausweichen, aber ihr Glas ist leer.
    »Keine Absicht«, sagt sie.
    Karin hat sich ihre Sonnenbrille ins Haar geschoben, trägtein Goldkettchen im

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