Grenzgang
spielt die Musik, quillt von allen Ecken des Frühstücksplatzes auf und wird vom Wind über die Köpfe getragen. Lass die Finger von ihm, denkt sie und freut sich über diesen plötzlichen kriegerischen Impuls in ihrem Herzen. Den ersten seit Wochen. Wozu immer Lamm sein? Sie wirdjetzt da runtergehen und sich so selbstverständlich an seine Seite stellen, als wäre das schon immer ihr Platz gewesen.
»Wir sehen uns später«, sagt sie. »Und danke für die Blumen.«
»Ich ruf dich an.«
Dann steigt sie hinab ins Getümmel, hinein in die Mischung aus Biergeruch und Lachen, in die Sonnenwärme auf glänzenden Gesichtern. Lautstark werden die letzten Steaks und Würstchen angepriesen. Sie entscheidet sich für ein zweites Bier und nimmt es lächelnd aus einem vorbeischwebenden Drahtkorb. Und nun hin zu ihm, denkt sie. Zeiten gab’s, da standen die Zweifel so dicht an dicht vor ihr wie jetzt die Masse der Grenzgänger, aber der Vorteil der Zeiten ist, dass sie irgendwann aufhören, um anderen Platz zu machen, und dass dazwischen Lücken bleiben, durch die man vorankommt. Sie dreht sich in der Hüfte, grüßt hier und da und fragt sich, was eigentlich gegen die Idee des Tanzstudios spricht. Im nächsten Jahr wird ihr Unterhalt gekürzt, der Ausgleich durch das Pflegegeld fällt weg, sie muss sich ohnehin Arbeit suchen. Also? Über Einzelheiten werden sie reden müssen, aber grundsätzlich hätte ihr gar nichts Besseres passieren können als Karin Preiss’ Plan mit dem Studio. Das ist etwas, was sie alleine nie in Angriff nehmen würde und was aus Karins ›einander helfen‹ am Ende doch mehr als eine Unaufrichtigkeit machen könnte.
Ein eigenes Tanzstudio! Sie trinkt im Gehen und muss an sich halten, nicht laut zu lachen. Wahrscheinlich hat es damit zu tun, dass sie wochenlang keinen Alkohol getrunken hat. Aber nirgendwo steht geschrieben, dass Träume die Konsistenz von Seifenblasen haben müssen , und den naiven Schwung von Karin Preiss soll man nicht unterschätzen. Die träumt nicht rum, sondern denkt strategisch und in Zielgruppen. Die hat unter all der Schminke die Konstitution eines Traktors, und warum sollte sie nicht zur Abwechslung mal vom Elan ihrer Nachbarin profitieren?
Schließlich entdeckt sie das gesuchte Gesicht in der Menge.Spöttisch lächelnd, während er Granitzny zuprostet und sein Glas leert. Dabei gut gelaunt auf seine stille Art: Als ob er sich selbst nicht allzu viel machen würde aus seiner guten Laune. Warum der, fragt sie sich, wischt die Frage umgehend beiseite und zwängt sich durch die letzten Grenzgänger, die noch zwischen ihnen stehen. Jetzt oder nie, denkt sie. Offenbar hat er sie kommen sehen, jedenfalls dreht er der Gruppe um Granitzny den Rücken zu, und etwas in seinem Gesicht sagt ihr, dass es nicht mehr vieler Worte bedürfen wird, um ihrer beider Schicksal zu besiegeln.
Eine halbe Stunde schon steht er im Kreis seiner Kollegen, hört Granitznys Sticheleien zu und lässt den Blick schweifen über die Menge auf dem Frühstücksplatz. Hin und wieder vergewissert er sich, dass seine Tante nicht alleine sitzt beim Stand der Männergesellschaft Lahnaue, und nippt an seinem Bier. Zweiter Tag des Grenzgangs und er müsste lügen, wollte er behaupten, sich nicht bereits ein bisschen zu langweilen.
»Eine Sänfte. Könnten Sie nicht irgendwo eine Sänfte für Ihren Schulleiter auftreiben?« In Granitznys Geplauder mischt sich schon den ganzen Morgen dieser Unterton, mit dem er die Grenzen seiner Gesprächspartner austestet, hier und da auf Füße tritt und sich umgehend entschuldigt im ›Hat doch wohl nicht weh getan‹-Tonfall des gut gelaunten Tyrannen. Vor zehn Minuten hat er Weidmann den ›ranghöchsten Akademiker des Frühstücksplatzes‹ genannt und dabei wie zufällig einen Kollegen angelächelt, von dem alle an der Schule wissen, dass er seit fünfzehn Jahren seine Sommerferien einem germanistischen Dissertationsprojekt widmet, dessen Arbeitstitel selbst der Doktorvater – falls er noch lebt – längst vergessen hat.
Kerstin Werner trägt Dunkel, aber nicht mehr Schwarz, wenn er das aus der Entfernung richtig erkennt, und sie hat sich die Haare zum Pferdeschwanz gebunden. Wie damals am Kleiberg. Frau Preiss sitzt neben ihr, und darum verzichtet er darauf, sich dort oben am Rand der Böschung zu ihr zu gesellen. Immerhin hat sie sich doch zur Teilnahme am Grenzgang entschlossen, undvielleicht kündigt sich darin eine allmähliche Rückkehr aus der Selbstabkapselung
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