Grenzgang
ihrer Trauerzeit an. Einen Monat lang haben sie einander nur zu gelegentlichen Spaziergängen gesehen, bei denen Kerstin Werner die Arme vor der Brust verschränkt und ihren Gang zu einem zögerlichen Schlendern gemacht hat, was ihm das Gefühl gab, es stünde etwas zwischen ihnen, das keiner von beiden sich auszusprechen traute. Als würden Gedanken sich wie Schlingpflanzen um ihre Knöchel winden. Nachdenklich hat sie vor sich hin geblickt und nach hinten offene Sätze gesagt wie: Ich weiß nicht mal, inwiefern ich sie wirklich geliebt … Verstehst du, ob ich sie wirklich … Aber andererseits: Kann man das überhaupt …? Satzenden, die in die vermeintlichen Abgründe ihrer Selbstzweifel stürzten, aber sosehr er auch den Hals gereckt hat, er fand sie weder sonderlich tief noch besonders abgründig und Kerstin Werners Ringen mit sich nicht frei von Selbstgefälligkeit.
So sind sie in den vergangenen Wochen durch eine Art Moratorium ihrer gegenseitigen Annäherung gelaufen. Ein jeder sah auf seine Schuhspitzen und sagte bei jedem Reh, das ihren Weg kreuzte: Ein Reh. Spaziergänge wie Deutsch für Anfänger. Manchmal hat er ihr den Arm um die Schultern gelegt, sich über seine Hilflosigkeit gewundert und nicht gewusst, ob es daran liegt, dass er nicht aus seiner Haut kann oder dass sie sich in ihrer so einschließt. Jetzt sieht er zu, wie sie sich von ihrem Platz erhebt und einen Moment am Rand der Böschung steht, und der Anblick weckt ein Bedürfnis in ihm, das wochenlang unter ergebnislosen Grübeleien verschüttet war.
»Was soll’s«, poltert Granitzny, »den Kleiberg hab ich überstanden, und näher komm ich der Unsterblichkeit sowieso nicht mehr. Kollege Weidmann!«
»Ja?« Er hätte es vorgezogen, noch eine Weile Kerstin Werner zu beobachten, aber Granitznys Blick hat sich an ihn geheftet, und dem Glänzen seiner Augen lässt sich entnehmen, dass der Schulleiter wieder mal einen Coup ausgeheckt hat.
»Freut mich, dass Sie sich nach kurzem Zögernentschlossen haben, das Amt des Stellvertretenden Schulleiters doch zu übernehmen. Vonseiten des Schulamts gibt es keine Einwände.« Mit unverhohlenem Triumph in der Miene streckt Granitzny den Kopf in seine Richtung, so dass beinahe ein Hals entsteht zwischen Kinn und Schultern. Auch ein volles Bierglas kommt Weidmann entgegen. »Also dann: Auf gute Zusammenarbeit!«
»Hoch! Hoch! Hoch!«, schreit ein besonders enthusiastischer Uniformierter auf seinem Bierfass.
Granitzny im Augenblick der Attacke ist ein so grotesker Anblick, dass Weidmann für einen Moment seine eigene Überrumpelung einfach vergisst. Wie ein Feldmarschall steht er da, der dem unterlegenen Gegner die Friedensbedingungen diktiert – verschmitzt, frech und so händeringend bemüht um Unausstehlichkeit, dass man ihn am liebsten in die Arme nehmen würde und sagen: Bemüh dich nicht, du bist ein Scheusal. Der hat das geplant, vielleicht seit Stunden, vielleicht seit Tagen, und freut sich diebisch über die Ungerührtheit, mit der er seinen Säbel zückt, um Tatsachen zu schaffen.
»Seit wann haben denn Diktatoren Stellvertreter?«, fragt Weidmann und weiß, dass er damit den Angriff nicht abwehren kann. Granitzny bricht in schallendes Lachen aus, die Kollegen werfen einander Blicke zu. Kerstin Werner, stellt Weidmann mit einem Blick aus den Augenwinkeln fest, hat sich unterdessen von ihrer Nachbarin verabschiedet und kommt die Böschung herab. Vielleicht sollte er sich ein Herz fassen, sie in den Arm nehmen und sagen: Okay, versuchen wir’s. Es könnte klappen oder auch nicht. Hilft ja nicht, sich diesen schalen Optimismus einzureden, bloß weil das romantischer klingt.
»Okay«, sagt Granitzny und bittet mit huldvoller Geste um Aufmerksamkeit. Dem macht das einen Heidenspaß, und Weidmann fühlt sich außerstande, ihm die Inszenierung zu verderben. »Ich könnte jetzt darauf hinweisen, dass sogar der Allmächtige einen Stellvertreter hat, aber das ginge vielleicht doch zu weit. Wir alle kennen unsere Grenzen, nicht wahr?« Unverändert hält er sein Glas in Weidmanns Richtung, und nurseine Stimme hat sich um eine Winzigkeit verdunkelt. »Auf gute Zusammenarbeit, Kollege.«
»Prost!« Weidmann setzt sein Glas an und leert es in einem Zug. Sonne trifft ihn auf der Stirn. Wird er eben Stellvertretender Schulleiter, warum nicht? Mit einem Bier in der Hand sieht er Kerstin in seine Richtung kommen, außerdem mit einem anderen Blick als zuletzt, offener und erwartungsvoller. Er hört die
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