Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Grenzgang

Grenzgang

Titel: Grenzgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
Vom Netzwerk:
andere bewegt. Was sucht sie selbst hier? Was hat sie verloren in der Gesellschaft von Frau Preiss, wenn sie nicht einmal deren Bad benutzen kann, ohne dass das Strahlen der Armaturen wie ein Schatten auf ihr eigenes Leben fällt? Selbst die Toilette strahlt, und erst als sie darauf Platz genommen hat, fällt ihr ein, dass es in einem Haus wie diesem eine Gästetoilette geben muss und dass sie beim Hereinkommen – neben der Haustür links – die Tür wahrgenommen hat, hinter der sich nichts anderes als ein kleines, aber ebenso sauber blitzendes Gästeklo befinden wird, zu dem Frau Preiss’ Richtungsangabe sie also hat geleiten wollen. Und sie sitzt im ehelichen Bad der Preissens und kontempliert missmutig ihr Leben. Mit angehaltenem Atem horcht sie nach Schritten in der Diele, greift hastig nach dem Papier. Die tiefen Teppiche im Flur werden kein Signal geben, ehe jemand von außen den Türgriff fasst …
    Was sie hört, ist ihr eigener Herzschlag.
    So schnell, als hätte sie sich zum Pinkeln hinter die Leitplanke gehockt und sähe um die nächste Kurve ein Auto biegen, beendet sie ihre Sitzung, spült, wäscht sich die Hände und vertraut darauf, dass ihre Frisur nicht in allzu großer Unordnung ist. Lediglich eine einzelne Männersocke bemerkt sie noch neben der Tür, bevor sie nach einem spähenden Blick hinausschlüpft und der Anfall von Panik sich umgehend in eine Mischung aus Erleichterung und Beschämung wandelt.
    Sie hat schließlich nicht in fremden Schränken gewühlt.
    Ein angenehm kühler Hauch weht vom Wohnzimmer in ihre Richtung, Frau Preiss muss die Balkontür geöffnet haben. Im Spiegel der Diele überprüft sie ihre Frisur und schneidet sich selbst eine Grimasse. Jeden kleinen Moment der Ausgelassenheit bezahlt sie mit diesen Anfällen von Selbst-Inquisition. Aberwarum? Und woher kommt diese idiotische Angst vor jedem noch so bedeutungslosen Fauxpas?

    * * *

    Unter die Fahne zu gehen kostete nichts, aber man bezahlte trotzdem was. Man bezahlte, soviel man eben wollte, und da wunderte er sich schon ein bisschen, dass die meisten ziemlich viel bezahlten. Manchmal zwanzig Mark, aber nur Erwachsene, eigentlich nur Männer. Für Kinder reichen fünf, ihr trinkt ja hinterher auch kein Bier, hatte sein Vater gesagt. Man bekam ein Abzeichen, und mit dem Abzeichen bekam man alle Getränke umsonst bei der Gesellschaft, wo man vorher unter der Fahne gewesen war. Man ging einfach zu dem Stand hin und nahm sich was von der Theke. Weil Grenzgang war und man das Abzeichen hatte. Er hatte schon vier, aber noch zwei Fünfmarkstücke in der Tasche, und wo Onkel Hans saß, wusste er auch. Dem war die lange Wanderung gestern tierisch auf die Beine gegangen, der hatte sich mit Kleidern ins Bett gelegt und nur den Kopf geschüttelt, als alle zum Rummel gingen. Nichts mehr gewohnt, hatte seine Mutter gesagt. Die war gestern komisch gewesen, vor dem Rummel und danach noch mehr, aber die war in letzter Zeit häufig komisch, und daran wollte er jetzt nicht denken, sonst war der ganze Spaß weg.
    Den Typen von gestern sah er nicht mehr. Er konnte aber nicht richtig gucken, während er mit der Cola in der Hand die Böschung raufkletterte. Von oben hatte man den besten Blick. Die meisten saßen unten am Hang auf der Wiese, seine Mutter und Onkel Hans und die anderen von der Rheinstraße, aber oben saß keiner, und deshalb wollte er da hin. Es war nur ein schmaler Streifen mit Gras, bevor der Tannenwald begann. Oben zog er sich den Pullover von der Hüfte, legte ihn auf den Boden und setzte sich drauf und hatte den ganzen Frühstücksplatz im Blick. Und fast nichts verschüttet.
    Überall wurden Fahnen geschwungen, und Leute flogen durch die Luft, manchmal sogar richtig dicke. Vier oder fünfKapellen spielten. Man musste seinen Namen sagen vorher, damit der Führer wusste, was er zu brüllen hatte: Der und der oder die und die, lebe hoch, hoch, hoch! Ganz am Rand, wo der Grenzstein war, wurde gehuppcht. Hatte er gestern gemacht und dann den ganzen Nachmittag eine schwarze Backe gehabt. Und es war auch nicht so lustig. Man wurde nicht geschmissen, sondern nur drei Mal hochgehoben über dem Grenzstein, und hinterher musste man richtig latzen. Weniger als zehn Mark waren peinlich, auch für Kinder. Die Wettläufer und der Mohr hatten schließlich ordentlich was zu tun an Grenzgang. Sein Vater hatte sich sein erstes Auto gekauft von dem Wettläufer-Geld.
    Die drei Abzeichen von gestern steckten an seiner Hose (da bekam er heute

Weitere Kostenlose Bücher