Grenzgang
links und rechts und setzt im selben Moment an, die Straße zu überqueren, in dem Frau Preiss hinter ihr fragt:
»Wo haben Sie Ihren Wagen stehen?«
»In der Werkstatt, wieder mal.» Sie dreht sich um.
Frau Preiss hat ihren Korb auf den Rücksitz gestellt, die Beifahrertür geöffnet und lässt sie offen stehen, als sie ums Heck herum zur Fahrertür geht.
»Ich nehm Sie mit.«
»Danke.«
Die Ledersitze sind warm von der Sonne. In der Kniekehle, wo Kerstins Rock endet, fühlt sie den Griff einer heißen, großen Hand, während Frau Preiss den Schlüssel dreht und ein Schwall dumpfer Bässe aus den Boxen springt wie ein zu lange eingesperrtes Tier. Ein paar Schüler drehen die Köpfe.
Frau Preiss drückt eilig den Lautstärkeregler, und der Sprechgesang verschwindet hinter Motorengeräusch.
»Verzeihung. Ich klaue die CDs meiner Tochter, um auf dem Laufenden zu bleiben. Bei den Kindern geht ja heute alles über Musik, und im Moment hören sie einen tätowierten, schwarzen Ami, der so ähnlich heißt wie sehr wenig Geld. Kennen Sie den? Mir gefällt er auch, wahrscheinlich ist es furchtbar obszön.«
»Mein Sohn hört wenig Musik, und ich …«
»Meine Tochter hört rund um die Uhr Musik, vom Aufwachen bis zum Einschlafen. Außer in der Schule, hoffentlich.« Frau Preiss hat den Wagen gewendet und seine Kühlerhaube so weit auf die Straße geschoben, dass jemand ihr schließlich die Vorfahrt lassen muss.
»Danke«, sagt sie zu sich selbst. »Wieso hört Ihr Sohn keine Musik?«
»Das weiß ich nicht. Er interessiert sich für Sterne.«
»Sterne. Sie meinen …« Ihr rechter Zeigefinger zeigt da hin, wo um diese Zeit keine Sterne zu sehen sind.
»Ja.«
»Wie romantisch. Meine Tochter interessiert sich für Stars. Waren die zwei nicht mal verliebt ineinander?«
»Ist ein paar Jahre her, aber die Hochzeit war jedenfalls fest versprochen.«
»Ach ja.« Frau Preiss hält am Zebrastreifen, wo zweiGrundschüler selbstbewusst die Arme nach vorne strecken. »Lernt was Schönes, ihr Süßen.« Damit fährt sie wieder an und nimmt mit Schwung die Abzweigung zum Kornacker. Kerstin fühlt den warmen Druck der Sitzlehne im Rücken, die Musik ist nur noch ein leises Rauschen jetzt. Vor genau vier Jahren, fällt ihr ein, ist sie mit Anita um den Starnberger See gefahren – Jürgen und Daniel paddelten über Pfingsten auf der Dordogne –, mit offenem Verdeck und sonnenbebrillt, während die Spätnachmittagssonne eine Schicht Gold auf das Wasser legte. An einem Uferrestaurant haben sie gehalten, dessen Parkplatz aussah wie der Genfer Autosalon. Heller Kies und gestutzte Bäume. Auf langgezogenen Terrassen und unter weißen Sonnenschirmen Gesichter, die Dollars und Schweizer Franken lachten, und Anita und sie hatten kaum Platz genommen, als die Plätze am Nebentisch auch schon von graumelierter Abenteuerlust besetzt wurden. Anita ließ sich Feuer geben, da waren sie zu viert. Kerstin hat ihre Freundin beobachtet, ihre flirtenden Blicke, die Mühelosigkeit ihres Charmes, während ihr selbst das Lächeln so langsam und unaufhaltsam aus dem Gesicht rutschte wie eine zu große Brille. Und irgendwann hat sie die Maske einfach fallen gelassen und die Hand auf ihrem Oberschenkel dem dazugehörigen Zahnarzt zurückgegeben.
Warum? Anitas Frage auf dem Heimweg. Neben der Straße der nun dunkle See, wie ein Loch in der Erde, mit tausend Lichtern drum herum, damit niemand hineinfällt. Ihr vierzigster Geburtstag, zwei Jahre nach der Scheidung, und an nichts erinnert sie sich so gut wie an das nagende Gefühl, von allen, in allem und um alles betrogen worden zu sein.
»Sie können mich da an der Ecke rauslassen«, sagt sie. »Die fünfzig Meter bis …« Aber Frau Preiss ist schon nach rechts abgebogen und nimmt den Fuß vom Gas.
»Hier?«
»Das wär nicht nötig gewesen. Hier rechts. Sie können vorne bei Meinrichs wenden.«
Der Wagen hält, Musik löst das Motorengeräusch ab, undKerstin muss einen Moment suchen, bis sie den Türgriff in der Armlehne findet. Sonnenbeschienen und mit kleinen Rissen im Straßenbelag liegt der Rehsteig vor ihnen.
»Ich wünschte, mein Flieder würde so blühen.« Frau Preiss nimmt die Sonnenbrille ab, um den Strauch neben Kerstins Haustür in Augenschein zu nehmen.
»Hier vor dem Haus ist es schwierig. Zu viel Schatten.«
»Bei mir blüht er auch im Garten nicht richtig. Ich mache was falsch.«
»Mit Flieder kann man nicht viel falsch machen. Schneiden, wenn der Frost vorüber ist. Auf
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