Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
Proklamation des Rechts der Völker auf Selbstbestimmung. In der Praxis zielte die Staatenbildung in dieser historischen Region Europas darauf, die Trias von Staat, Territorium und Volk zur Deckung zu bringen – mit allen Konsequenzen für den Verlauf von Grenzen und für die Integration von ethnischen Gruppen, die nun Minderheiten in den Staaten der Titularnationen geworden waren. Die Zwischenkriegszeit war erfüllt von Grenzkämpfen und Homogenisierungsanstrengungen, bei deren Durchsetzung nationale und rassistische Ursprungsmythen und Ideologien eine große Rolle spielten. Die Grenzstreitigkeiten und Grenzunsicherheiten waren ein markanter Beleg für Instabilität und Legitimationsdefizite fast aller Staaten zwischen den Kriegen.
Zu einer grundsätzlichen Revision des nationalstaatlichen Gedankens von der Deckungsgleichheit von Staat, Territorium und Volk kam es im Nationalsozialismus, der die Grenzen des Nationalstaates überrannte und einen rassistisch homogenisierten Großraum avisierte, der in einem kolonial-imperialen Großreich neuen Typs realisiert werden sollte. Das »Dritte Reich« überzog Europa mit einem System neuer Grenzen – Kriegsfronten zu Lande, zur See und in der Luft, ein Neben- und Ineinander von Reichslanden und Nebenlanden, von Protektoraten, Generalgouvernements und Reichskommissariaten, von Militär- und Zivilverwaltungen, mit inneren Abstufungen und Hierarchisierungen von Zugehörigkeit und Ausschluss, bis hin zur Wegschaffung und Auslöschung in Todeszonen. 6
Die Neuordnung der Verhältnisse nach der Zerschlagung des Nationalsozialismus ging – wie in Potsdam 1945 beschlossen – einher mit der Schaffung von im Großen und Ganzen ethnisch homogenisierten Staatsgebilden in neuen Grenzen, die im östlichen Europa allerdings von einer neuen Sozial- und Politordnung überwölbt wurden (Ostblock, Eiserner Vorhang, Bambus-Vorhang, Containment). Kriegsende und Etablierung der Nachkriegsordnung waren begleitet von großen Flucht- und Umsiedlungsbewegungen, die in der Zeit des Kalten Krieges durch die Demarkationslinie zum Stillstand gebracht wurden. Zusammenfassend könnte man sagen, dass die Geschichte der Grenzziehungen und der Grenzregime in Europa gelesen werden kann als eine Geschichte der Durchsetzung von Macht und Herrschaft, aber auch deren Unterminierung, ihrer Militarisierung ebenso wie ihrer Demilitarisierung.
Grenzen als »kulturelle Komplexe«
Die Grenze als Strich auf der Karte ist jene unverzeihliche und zugleich unverzichtbare Reduktion von Komplexität, ohne die Karten nicht funktionieren. Nur wer etwas verschweigt, kann etwas anderes hervorheben. Wer alles zeigen möchte, zeigt nichts. Definitio est negatio . Territoriale und staatliche Grenzen sind die sichtbarste, aber doch nur eine Form von Grenzen unter und neben vielen anderen. Es gibt so viele verschiedene Formen von Grenzen, wie es einschließende und ausgrenzende Subjekte gibt. Sprachkarten zeigen uns den Verlauf von Sprachgrenzen, Sprachinseln, Sprachgemeinschaften. Bevölkerungskarten führen uns die Grenzlinien und Kontaktzonen von ethnischen Gemeinschaften vor Augen. Auf Konfessions- und Religionskarten sehen wir die Verläufe der Grenzen des Verbreitungsgebietes von religiösen und konfessionellen Überzeugungen und Riten. Jede Karte hat ihre je spezifische und damit beschränkte Aussagekraft. Am schwersten hat es Grenzziehung und Grenzbildung dort, wo sich staatliches Territorium, Ethnos, Sprache und Kultur nicht decken – und dies war außerhalb der »klassischen« Nationalstaaten Westeuropas wie Frankreich und England fast überall die Regel. Phantomgrenzen, die aus alten Grenzverläufen herrühren und über die die Geschichte hinweggegangen ist, erkennt meist nur das geübte Auge.
Wie immer ist die wirkliche Grenze komplexer als die Darstellungsform, die einem zur Verfügung steht. Wo der Kartenzeichner mit einem dick eingezeichneten Strich eine Grenze markiert, die den einen Staat vom anderen trennt, verläuft in Wahrheit eine Landschaft, in der nicht einmal Grenzpfosten zu sehen sind: ein unmerklicher Übergang und die Grenze als reine Kopfgeburt und Konstruktion. In den Schlachtenkarten, in denen die sich gegenüberliegenden Truppen eingezeichnet sind, stimmen vielleicht Entfernung und Angaben zum Terrain, aber für das, was den Ausgang der Schlacht entscheidet, gibt die Karte nichts her: Sie zeigt nichts von der Logistik, von der strategischen Intelligenz der militärischen Führung und nichts von
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