Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
der Kampfmoral, die über Sieg oder Niederlage entscheiden wird. Sprachkarten, und seien sie noch so akribisch erstellt – und es gibt wahre Wunderwerke –, sagen nichts über die Akzent- und Lautverschiebungen in Grenzgebieten, die einen fast unmerklich von der einen in die andere Sprache hinüberführen. Und gewöhnliche Karten sagen schon gar nichts aus über die Karten im Kopf, in denen es Zugehörigkeiten und Loyalitäten gibt, die über jede Kartendarstellung hinausgehen. Man findet diese eher in Familienerzählungen, Romanen, Traumbüchern. Aber es kann auch der Tag kommen, wo sie spruchreif werden und Grenzwächter herausfordern können. Fast immer besteht eine Verbindungslinie zwischen den imaginierten Räumen und Grenzen und jenen Karten und Grenzen, die geschichtsnotorisch geworden sind: Noch jedes Land, das staatliche Form gewonnen hat – im Unabhängigkeitskampf, in einer Revolution –, hatte lange zuvor schon in den Träumen der Menschen Gestalt gewonnen. Zwischen den Dichtern, die die Imagination befeuern, und den Kartenzeichnern besteht eine innige Beziehung.
Es gab Herrschaftsbildungen, die keine feste Grenze kannten. Es gab Zentren, Höfe, von denen aus regiert und Tribut eingezogen wurde, aber feste territoriale Grenzen sind eine sehr späte Erfindung des Nationalstaates. Die Vorstellung, dass Staaten durch Grenzen definiert sind, wanderte über die Schulwandkarten der europäischen Nationen in die Köpfe der Menschen, die Geburt der Nation wurde begleitet von der Produktion der ihr entsprechenden Raumbilder. Der moderne Staatsbürger trägt die Grenzen im Kopf. 7
Die Farbgebung der Karte suggeriert Homogenität und Kompaktheit, die es in Grenz- und Übergangsgebieten nicht gibt. Noch der raffinierteste Kartenzeichner, der Farben und Linien sich überlagern lässt, kommt an die organische Komplexheit sich vermischender Sprachen und Stile nicht heran. Linien, Striche, Schraffierungen – sie alle sind Indizien, Hinweise, Kürzel, Zeichen des »Als-ob«.
Und doch wäre es unsinnig zu bestreiten, dass es Grenze und Grenzen gibt. Die Grenze zwischen den USA und Kanada einerseits und den USA und Mexiko andererseits ist nicht nur eine mit dem Lineal gezogene und dennoch stimmige und trotz millionenfacher Grenzüberwindung akzeptierte Grenze, obwohl sie von keinem Fluss, keinem Meer, keinem Bergkamm gestützt wird. Der Rhein trennt in seinem Oberlauf Frankreich und Deutschland. Die Donau bildet die Grenze zwischen Rumänien und Bulgarien. Die Sahara trennt den Mahgreb von Schwarzafrika. Der Bosporus, jenes Flusstal, das das Schwarze mit dem Mittelmeer verbindet, trennt die Kontinente Europa und Asien. Der Mississippi, später die Rocky Mountains, dann der Pazifische Ozean waren für bestimmte Zeiten die äußerste Linie des Fernen Westens. Irgendwo an der Oder wechseln wir aus dem germanischen in das slawische Sprachgebiet. Im Gebirge spricht man von der Baumgrenze. Bei der Beschreibung der Reliefs von Landschaften zeichnen wir die Grenzen ein, die sich aus Niederschlagsmengen, Isothermen, Kälte- und Wärmeschwankungen, dem Verbreitungsgrad bestimmter Pflanzen- oder Tierarten ergeben. Das Ausbreitungsgebiet bestimmter untergegangener Kulturen definieren wir über archäologische Fundstellen und die Linien, die sie miteinander verbinden. Die Epoche der Entdeckungen könnte man als eine Epoche der Grenzverschiebung der terra cognita beschreiben – im räumlichen wie im übertragenen Sinn. Flüsse und Ströme dienten lange und oft als Grenzen. Gebirgszüge wirkten als Barrieren und wurden auch so verstanden. Küsten waren Grenzlinien, aber auch die vom Nordpol zum Südpol gezogene Linie des Vertrages von Tordesillas von 1494, der die bekannte Welt zwischen der spanischen und portugiesischen Krone aufteilte, wurde zu einer historisch folgenreichen Grenze. Grenzen verlaufen aber auch zwischen Altstadt und Neustadt, zwischen Downtown und Suburbia, zwischen Stadtzentrum und Banlieue. Es gibt Grenzen, die nirgends verzeichnet sind und doch von allen respektiert werden. Und es gibt Grenzen, denen die Anerkennung verweigert und deren Legitimität herausgefordert wird. Man muss eine Grenze überschritten haben, wenn man untertauchen will. In Grenzüberschreitungen können sich säkulare Erschütterungen ankündigen. Grenzen bezeichnen die »heiligen Räume« von Tempelbezirken und Verbotenen Städten. In manchen Metropolen sind es oft nur wenige Blocks, und man wechselt aus »einer Welt in eine andere«.
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