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Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Titel: Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schlögel
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so wenig wie Kulissenschieber und andere Chargen. Bösewichter, wo es sie nicht gibt, müssen erfunden werden. Das Gespensterspiel ist hoch im Kurs, während man sich für Kriminalgeschichten, die das Leben schreibt, nur sehr am Rande interessiert. Die Maske gehört zur Grundausstattung der Bühne, und die Entlarvung der persona ist einer der Höhepunkte, die ein Geschehen, das sich totgelaufen hat, wieder vom Fleck bringt. Das Ensemble spielt in Notbesetzung. Daraus erklärt sich viel. Der Auftritt von jungen Helden, die sprechen, als ob sie die ganze Geschichte, die sie nicht kennen können, auf ihren Schultern trügen.
    Alte Texte, neue Handlung. Es ist die Zeit der Geistesgegenwart, aber jene, denen die Verantwortung für die deutsche Premiere zugefallen ist, halten sich ans Altbewährte. Es besteht ein Mangel an modernen, zeitgenössischen Stücken. Die meisten Texte kennt man schon aus dem alten Repertoire, das 40 Jahre mit großem Erfolg gegeben wurde. Dabei wird überall gesprochen: in Elfenbeintürmen und auf der Straße, an Bier- und Stammtischen, in Zeitungs- und Fernsehredaktionen. Das Programmheft verspricht viel. Es ist selten etwas schiefgegangen. Die Klassik überstand ihre Regisseure, selbst mit der »Publikumsbeschimpfung« hat man sich ausgesöhnt. Der Betrieb war reich, daher konnte er sich fast alles leisten. Aber die Aufführung mit dem Titel »Deutsche Einheit« ist etwas anderes. Es gibt keine Texte außer dem laufenden, die gerade gesprochen werden. Er lässt sich nicht auswendig lernen, denn er ist noch nicht geschrieben. Auf Souffleusen kann man in diesem Stück nicht bauen. Wir können nicht beruhigt oder erschüttert nach Hause gehen, denn das Ende ist noch offen. Der Mangel an Gegenwartsstücken ist eklatant, vielleicht besteht deshalb so rege Nachfrage nach Zukunftsmusik oder alten Klamotten. Die Stunde der Improvisation wird zur Stunde der Routiniers. Man will nicht auf offener Bühne improvisieren, man will kein Provisorium, sondern wartet, bis der neue Bau fertig ist – größer und prächtiger als alles zuvor. Aber jeder weiß: Wenn eine Bühne Stein geworden und das Schauspielhaus der Zukunft errichtet ist, dann ist das Stück, das aufgeführt werden soll, schon zu Ende. So war es mit allen Bühnen, die Geschichte gemacht haben. Auf die Revolution folgt Empire .
    So hält man sich an den Text, den man kennt. Die Aufführung der deutschen Nation, die Aufführung der deutschen Republik. Niemand stürzt sich ins Messer, es gibt keinen Cäsar und keinen Brutus. Das Dramatischste sind Herren in Nadelstreifen und Sweatshirts. Keine Intrige ohne Rechtsanwalt, keine reconquista ohne halbwegs gute Manieren. Rachegelüste sind kultiviert und eher indirekt. Denunziationen erfolgen nicht aus Leidenschaft, sondern der Rechtsordnung zuliebe. Es gibt keine Mörder, sondern nur Vertreter eines Systems. Die gemeinen Typen sind verschwunden, alle sind nur Opfer von etwas . Wir hören und sehen eine opulente Macht des Schicksals , das Charakterspiel der grand old men , Genrebilder aus dem Tatort und Agitprop-Stücke im Wahlkampf. Die aufregendsten Stücke um Doppelspiel und Doppelleben kommen aus dem Archiv, glatte Naturen sind nichts fürs Publikum. Die Haupthandlung dreht sich in der Regel um Opfer und Täter . Man spielt deren Rollen, auch wenn man’s nicht gewesen ist. Man spielt als Stellvertreter und ist verstrickt als ob . Niemand traut sich, den Text, den er sagen möchte, auch auszusprechen. Man rückt nicht heraus mit der Sprache. Man ist zu verkrampft, um frei zu sprechen. Auf allen lastet die Geschichte, in der man sich sicher fühlt. Und wo, wenn schon nicht frei, so doch offen gesprochen wird, da wird gesagt, was man immer schon sagen wollte. Und das ist nicht neu. Der frische Wind weht her vom Alp der toten Geschlechter – oder den deutschen Jagdszenen, an denen nichts simuliert ist: nicht der Baseballschläger , der den Schädel zertrümmert, nicht die Kraft und Leidenschaft, die zuschlägt, nicht das Entsetzen, das uns befällt. Im Repertoire sind »Die Räuber«, aber was uns wirklich bewegt, sind die Jagdszenen im neuen Deutschland .
    Die überforderte Stimme. Betrieb und Technik funktionieren vorzüglich, alles ist drin. Plätze werden umdekoriert, Paläste bewegt, Fassaden verändert, Hauptstädte verlegt. Man leistet sich, solange das Geld reicht, Stars von Weltrang, bei denen das Publikum auf seine Kosten kommt. Unvermeidlich ist, dass man sich auf die verdienten Akteure

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