Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
verlässt – man weiß dann, woran man ist. Aber auch Jüngere werden ins Ensemble aufgenommen, wenn sie halten, was sie versprechen.
Die stimmlichen Anforderungen sind hoch. Es zeigt sich, dass virtuose Partiturbeherrschung, das Singen vom Blatt nicht alles ist. Der Ton macht die Musik. Man kann ein Konzert ruinieren, wenn man Konzerte mit Konkurrenzen verwechselt. Der Sängerwettstreit kann im Handgemenge enden. Das Zusammenspiel leidet, das Ensemble fällt auseinander. Es zahlt sich vielleicht aus, sich mit seiner Partie auf Kosten anderer zu profilieren, aber die Kunst leidet. Man muss hinhören können, wenn man gut musizieren will. Man muss seine Grenzen kennen, wenn man gut sein will. Wer keinen Fehler riskiert, singt immer nur korrekt. Die Stimme, die allen Lagen gerecht werden will, gibt es nicht. Gott hat dem Menschen Tenor, Bass, Sopran und Alt gegeben und einige Lagen dazwischen. Das missachtet man nicht ungestraft.
Schwächen machen sich bemerkbar, wenn alte verdiente Stimmen plötzlich ins Heldenfach wechseln oder junge, glänzende, aber unerfahrene Stimmen überanstrengt werden. Tragfähige Stimmen entstehen nicht in der Retorte, sondern nur in der Praxis der Aufführung. Hier zeigt sich, dass die Ausbildung des Nachwuchses vernachlässigt wurde. Sie neigen dazu, sich zu übernehmen. Man kann gute Stimmen ruinieren, wenn sie sich überfordern. Oft klingen sie schrill. Am besten halten sich die Routiniers – man kann sich das deutsche Konzert ohne diese Könner gar nicht vorstellen. Alle fragen sich, wie es sein wird, wenn sie nicht mehr sind – und dann sind sie plötzlich weg, und die Show geht doch weiter. Allzu große Routiniertheit tritt an die Stelle von Inspiriertheit, etwas mehr Lampenfieber, Nervosität und etwas mehr Gefühl für die Grenzen der Stimme täten der Aufführung gut. Das teilt sich sogar den Zuschauern und Zuhörern mit: Sie fiebern mit dem Künstler dem Ende des ersten Aktes entgegen, oder sie warten nicht ohne Schadenfreude auf den Fauxpas der Diva.
So ziemlich alles ist vorgekommen: Es wurde schön deklamiert, ein Pathos, das nicht überzeugend ist, weil es nur gespielt ist, Romantisches, das in Kitsch abglitt, ein Vibrato, das gekünstelt war, ein Gemurmel, wo eine klar artikulierte Sequenz zu singen oder zu sprechen war. Wie selten waren die Momente, wo der Sänger sich selber traute. Für große Obsessionen und ekstatische Ausbrüche – Gier, Hass, Liebe, Rache – ist das Register zu klein. Das Ensemble ist durch die Schule der Disziplin gegangen. Das Vorschriftsmäßige ist stärker als das Inspirierte. Die Modulationsfähigkeit ist begrenzt, das Reservoir an Zwischentönen beschränkt. Musik ist die Relation von Tönen, und wer Musik macht, muss etwas von Intervallen verstehen. Die Begleitmusik überdeckt manchmal die Stimmen und das Diffuse die Linien. Niemand haut auf die Pauke. Man bevorzugt den leisen Ton oder Techno . Am schwächsten sind die Mittellagen . Die Unsicherheit ist hier am größten. Die Stimmen kommen hier oft gepresst. Zuweilen überschlagen sie sich. Man sieht ihnen den Schweiß an, den die Hervorbringung eines Tons kostet, der selbstsicher klingt. Hier versagt die Routine. Und sie hebt sich nur dadurch ab, dass es noch viele Stimmen unter Niveau gibt. Wirklich stark ist die Mittellage nur in den Pastoralszenen . Beliebt sind die harmonischen Akkorde, auf denen man sich ausruhen kann. Dissonanzen sind nicht populär .
In einem Land, in dem das Volkslied fast nur noch reaktionäre Folklore ist, steht nicht viel zur Verfügung an Melodien, die jeder kennt und jeder singt. Die Melodie des Kaiserquartetts eignet sich zum Mitsummen. Nationalhymne ist das, was bleibt, wenn bestimmte Strophen weggelassen sind. Es gibt vielleicht eine einfache, überzeugende Melodie, einen Generalbass der Nation, einen cantus firmus der Republik, aber nur einen Text, der verstümmelt ist – ein Lied ohne Worte . Aus voller Kehle singen und zugleich mit gebrochener Stimme sprechen zu können, verlangt viel. Singen und Sprechen beginnt, das weiß jeder, mit dem richtigen Atmen. Der kurze Atem reicht vielleicht für einen Akt. Das deutsche Stück braucht aber einen langen Atem, denn auf den ersten Akt folgen weitere.
Jedes Stück hat seine eigene Zeit, seinen eigenen Rhythmus. Nur Mechanisten können so etwas planen. Der natürliche Fluss stellt sich ein – oder auch nicht . Solange die einen das Tempo forcieren und die anderen wie gehabt weitermachen, kommt nur ein
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