Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
auch in Berlin oder München antrifft, sportlich, die jungen Männer maskuliner als früher, die jungen Frauen wie immer schöner und eleganter, ein Zug von Festlichkeit und urbaner Gelassenheit. Freilich kommen dazu die Kontrollen wegen der Gefahr terroristischer Anschläge; im Zentrum liegt das neu gebaute »Hotel Moskwa« immer noch dunkel wie ein gigantischer Ozeandampfer – nun schon jahrelang, so als käme es nicht darauf an, ihn endlich vom Stapel zu lassen –, vor dem »Ritz Carlton« rollen die Luxuslimousinen, in den cremefarben glänzenden Boutiquen auf der Twerskaja kaum Betrieb. Aber dann steht in der Zeitung, dass der Rote Platz bis zum Ende der Woche für alle Besucher gesperrt ist, für eine Woche Militärkonzerte für ein spezielles ausgewähltes Publikum. Da hat man es wieder: einerseits eine weltstädtische Atmosphäre, fast blasiert, dann wieder ein Akt, ein Ukas, der den öffentlichen Raum, ohne die Bürger zu fragen, als Privatangelegenheit behandelt. Die Privatisierung des Öffentlichen, die Blockierung von Straßen für die Allgemeinheit, die willkürlichen Entscheidungen darüber, was abgerissen oder durch Abriss modernisiert wird – all das Seite an Seite.
Eine ähnliche Szene in Sankt Petersburg. Die Stadt im Spätherbst, im weißen Licht des Abends hingebreitet, die Palais an den Uferstraßen wie ein grandioses Geschmeide und über Kilometer hin illuminiert – aber über Nacht treffen die Stadtduma und die Gouverneurin die Entscheidung, dass nun doch der 400-Meter-Turm von Gazprom im Ochta-Center gebaut werden soll. So wird ein Zeichen, dass auch in Sankt Petersburg die Geschichte weitergeht und die Stadt ins 21. Jahrhundert eingetreten ist, zum Symbol schrankenloser und unkontrollierter Macht, der Gasmonopolist als Herr über die alte Hauptstadt des Reiches.
All das sind Kleinigkeiten, und manch einer wird fragen, warum man sich damit aufhalten soll, ob derartiger analytischer Minimalismus überhaupt etwas bringt. Es war Czesław Miłosz, der einmal in »Rodzinna Europa« (West-östliches Gelände) gesagt hat, dass man kulturelle Grenzen daran erkennt, wie ein Teeglas gehalten wird. Er hatte recht. Details, dichte Beschreibungen, phänomenologische Studien helfen manchmal weiter als Statistiken, von denen man ohnehin nicht weiß, ob sie gefälscht sind. Der Zustand öffentlicher Toiletten kann so viel über den Zustand eines Landes aussagen wie eine Handelsstatistik, und eine Änderung in dieser Hinsicht besagt vielleicht mehr als eine an- oder absteigende Kurve in der Graphik des Statistikers.
Und so mischt sich in alles Sich-Wundern über die unerhörten Veränderungen, über den Wandel die nachdenkliche Klage, warum manches sich gar nicht ändert oder sich zum Schlimmeren gewandelt hat. So sehen wir auf der einen Seite die Computerisierung am Fahrkartenschalter, aber auf der anderen Seite chaotische Szenen in einem Generalkonsulat der Russischen Föderation. Die allereinfachsten Dinge scheinen unmöglich: dass man sich in einer Reihe aufstellt, dass es Prozeduren gibt, denen man sich getrost überlassen kann – stattdessen Unübersichtlichkeit, Chaos, die fast absichtsvolle Produktion von Stress, die die Besorgung eines Dokuments oder eines Visums zu einem demütigenden und entnervenden Vorgang machen. Wie kann sich ein großes Land so etwas nur erlauben!
Viele Menschen, die seit Jahren und manchmal schon ihr ganzes bewusstes Leben mit diesem Land verbunden sind, sind müde. Wenn sie zusammenstehen, dann tauschen sie ihre letzten Erlebnisse aus. Kaum einer hat etwas ganz Tolles zu berichten: Das Reisen ist wieder schwieriger geworden, nicht nur wegen der alten Visa-Geschichten, sondern weil es keine normalen Hotels gibt. Die Hotels sind für normale Reisende unbezahlbar geworden, vom Service, an dem sich oft nichts geändert hat, gar nicht zu reden. Der Zugang zu den Archiven ist mancherorts schwieriger oder gar unmöglich geworden. Vor allem aber: Man ist der ständigen Klage überdrüssig, dass an allem das Ausland schuldig sei.
Die Freunde Russlands sind müde, viele sind verbittert. Sie machen sich Gedanken. Sie kreisen fast immer um den Punkt, dass der Alp der toten Geschlechter, die Abwesenheit einer starken und vitalen demokratischen Tradition, der gelebten Routinen der bürgerlichen Gesellschaft verantwortlich seien dafür, dass es nicht vorangehe. Als Historiker könnte man hingegen auf die Zemstwo-Bewegung nach den Großen Reformen des 19. Jahrhunderts verweisen,
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