Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
auf die Wahlen zur Duma nach 1905, auf die Ausstrahlung, mit der Russland um 1900 ganz Europa in seinen Bann geschlagen hat: Sergei Djagilews »Saisons Russes«, die Musik Strawinskys, eine Explosion der Sprache und der bildenden Künste, wie sie die Welt bis dahin nicht erlebt hatte. Aber auch in unserer Zeit hat es etwas gegeben, das gegen den Fatalismus spricht. Wir haben schon einmal etwas erlebt, was nicht vorgesehen war: die späten 1980er Jahre. Wir lebten in einer Spätzeit, einer bleiernen Zeit, und dann ging plötzlich, unangekündigt und zunächst auch nur ungläubig betrachtet etwas los, was niemand für möglich gehalten hatte und was in das Ende des ganzen sowjetischen Imperiums mündete. Es gab dann Jahre, in denen ein anderes Russland vor unseren Augen auftauchte, an das wir schon nicht mehr geglaubt hatten. Es fanden sich »Helden des Rückzugs« (Hans Magnus Enzensberger), der mehr Mut und Courage und Tapferkeit erforderte als die leer gewordene Rhetorik des Angriffs und des Kampfes bis zum Sieg. Es war jener Augenblick, in dem die Sprache der Wahrheit mit der Sprache der Freiheit zusammenfiel, und diese Sprache war das Russische. Adam Michnik hat unlängst in Petersburg gesagt: Wir saßen im Gefängnis und lasen die »Prawda«, die »Iswestija« und all die anderen Zeitungen und konnten unseren Augen nicht trauen. Es war keine mediale Erfindung, sondern der Eros der Freiheit, der der Sympathie, ja Begeisterung der 1980er und 1990er Jahre zugrunde lag, die von manchen im Westen als »Gorbimania« verspottet worden ist. Gerade wir, die mit jungen Leuten zu tun hatten, spürten es: eine Steigerung des Interesses, ein neuer Zulauf von Lesern, russische Filme – denken wir an die »Glocken von Solowki« von Maja Goldowskaja, an Elem Klimows »Geh und sieh’«, an die Aufführung der lange verbotenen Meisterwerke von Tengis Abuladse – »Reue« – oder die »Kommissarin« von Alexander Askoldow. Dieser neue Ton hat Europa aus der Erstarrung der Spätzeit des Kalten Krieges herausgeführt, und es gab erstmals wieder ein Russland, das stark war nicht durch seine Raketen, sondern durch seine Sprache, seine Botschaft, seine Kultur. In jenen Tagen fernzusehen war, als würde man einem Land bei der Verfertigung der Gedanken beim Sprechen zusehen.
Heute, so scheint es, wird in Russland diese Geschichte, dieser Augenblick als Vorgeschichte des Falls, des Verfalls, des Niedergangs, der Demütigung und der Kapitulation Russlands vor der Welt interpretiert. Alles, was folgte – die formelle Auflösung der UdSSR 1991, die anarchisch-chaotische Form der Entstaatung und der Privatisierung, das Wegbrechen aller Instanzen der Ordnung und die Wucherungen der privaten Machtgruppen, die Privatisierung der Gewaltorgane, der Zusammenbruch der Warenversorgung, die Krise, die die Wehrlosesten, die Alten, die Rentner, die Invaliden traf –, hatte in der Tat Züge eines grandiosen Untergangs, der von vielen nur als staatlicher Akt, als Reform, die die einen für gelungen und die anderen für missraten halten konnten, verstanden wurde. Aber die Auflösung eines über Jahrhunderte sich aufbauenden Imperiums lässt sich nicht in den Kategorien und den rhetorischen Formeln von Fraktionsauseinandersetzungen und Legislaturperioden abhandeln. Resteuropa hatte – in der Regel – keine Sprache für diesen Vorgang, obgleich es doch selbst eine – freilich schon weiter zurückliegende – Erfahrung mit dem Untergang von Imperien hatte. Die ganze Unangemessenheit der Begrifflichkeit – die Auflösung eines Imperiums gefasst als Reformprojekt – zeigt nur, wie wenig wir auf der Höhe der Zeit waren. Gorbatschow vorzuwerfen – oder später auch Jelzin –, er habe kein »Konzept« gehabt, heißt ja so viel wie ihm vorzuwerfen, dass er nicht Herr des geschichtlichen Verfahrens war – ein ziemlich kindischer und weltferner Vorwurf.
Seither sind zwei Jahrzehnte vergangen. Jahre mit dramatischen Höhepunkten, darunter blutige. Der Putschversuch im August 1991 und die Proklamation einer stolzen und selbstbewussten Russländischen Föderation/Rossija durch Jelzin. Die Auflösung der UdSSR und die Entstehung einer nachsowjetischen Staatenwelt mit ihrer ganz eigenen Fliehkraft. Die Beschießung des Parlaments mitten in der Stadt im Jahre 1993 mit Dutzenden von Toten. Der Rubelcrash des Jahres 1998 mit seiner nochmaligen Entwertung all dessen, was Sowjetbürger noch besaßen. Dann von einem Tiefpunkt aus der Boom: eine Zeit des
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