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Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Titel: Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schlögel
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der vaterländischen Geschichte auf neuartige Weise, eignete ich die Philosophie des Traditionalismus und der Konservativen Revolution sowie die geopolitische Methodologie an … und so wurde der Neoeurasismus zur einzigen ernsthaften weltanschaulichen Plattform im heutigen Russland, die sich als wissenschaftliche Schule und als System sozialer und kultureller Initiativen konstituiert.« Alexander Dugin versteht es wie kaum ein anderer, auf der Klaviatur der Medien – vor allem Fernsehen und Internet – zu spielen, und hat tatsächlich Verbindungen zu den höheren Sphären der Macht – zum Generalstab, aber auch zur Präsidialadministration. Wie radikal er ist, zeigt sich in der propagandistischen Begleitmusik für die Auftritte der kremltreuen Jugendorganisation der »Naschi«: »›Naschi‹ ist … ein Synonym für den Eurasischen Orden selbst … ›Naschi‹ ist die einheitliche, unsichtbare, eschatologische Front des Kontinents, die Front des Landes, die Front des Absoluten Ostens, dessen westliche Provinz Europa ist, ›unser‹ Europa, ein Europa, das dem ›Westen‹ entgegensteht … Der Orden Eurasiens ist die totale Konservative Revolution, die Große Erweckung des geopolitischen Bewusstseins … Wir müssen die Diener des Ozeans in den Ozean werfen … Wir werden erst dann nachgeben, wenn unser Kontinent frei sein wird, wenn der letzte Atlantiker ins Salzwasser geworfen sein wird … Seid ihr bereit, Soldaten Eurasiens?« Dugin sieht die Russen als die »imperienbildende Nation«, die über die Achsenbildung Moskau-Berlin, Moskau-Tokio, Moskau-Teheran die Bildung eines neuen Großraums gegen die amerikanische Weltherrschaft betreiben wird. »Eurasien ist zur geographischen und strategischen Vereinigung prädestiniert. Dies ist eine streng wissenschaftliche, geopolitische Tatsache. Im Zentrum dieser Vereinigung muss unvermeidlich Russland stehen. Die treibende Kraft dieser Vereinigung muss notwendigerweise das russische Volk sein. Mit dieser Mission harmoniert voll und ganz die zivilisatorische Mission der Russen … Das Neue Eurasische Imperium ist in der geographischen und politischen Vorherbestimmung der Weltgeschichte und der globalen Geopolitik festgeschrieben. Über diesen Umstand zu streiten ist sinnlos.« Nur nebenbei: Auf der Karte des eurasischen Imperiums von Dugin sind neben Afghanistan, Nordchina und der Mongolei auch Finnland und Rumänien verzeichnet. 8
    Es handelt sich zweifellos um extreme und minoritäre, sicher auch verworrene Ansichten, aber sie sind in vielem symptomatisch. Im Übrigen hat die Auflösung der UdSSR auch die etablierte Forschung durcheinandergebracht. Fast unmittelbar nach dem Ende der UdSSR kam es zu einem großen institutionellen Revirement und Namenswechsel. Institute, die bisher Soviet oder East European and Russian Studies betrieben, heißen nun fast durchgehend Institutes for Russian and Eurasian Studies und bringen so einen Wandel des Gegenstandsbereichs und der Forschungsperspektive zum Ausdruck: Der bisherige sowjetisch geprägte Raum wird nun als europäischer, russischer und asiatischer zur Kenntnis genommen und entsprechend bearbeitet. Dass damit ganz neue Forschungsperspektiven aufgehen können, zeigt sich etwa daran, dass ein führender amerikanischer Russlandhistoriker der mittleren Generation wie Stephen Kotkin unter dem Titel »Mongol Commonwealth? Exchange and Governance across the Post-Mongol Space« ganz neue Überlegungen über den Zusammenhang eines Raumes anstellen kann, der bisher nur als europäische Randzone und noch dazu unter dem traditionell negativen Vorzeichen des »Mongolenjochs« bearbeitet worden ist.
    Diese Verschiebung der Koordinaten ist das Echo der gewaltigen, ja: tektonischen Erschütterungen, die mit dem Ende des Sowjetimperiums verbunden waren und immer noch sind. Es gehört nicht viel Phantasie, sondern nur ein Blick auf die Karte dazu, um eine Vorstellung von der Wucht der Veränderungen zu gewinnen.
    Russland ist 1991, im Jahre der Auflösung der UdSSR , stellenweise auf den Umfang des vorpetrinischen Russlands zurückgeschnitten worden. Die Ostseeprovinzen bzw. die baltischen Republiken haben ihre Selbständigkeit zurückgewonnen, und Russlands Zugang zur Ostsee ist auf Sankt Petersburg und Kaliningrad beschränkt. Die Erweiterungen des Reichs im Südwesten unter Katharina II . sind hinfällig. Die Ukraine ist selbständig. Kiew, die »Mutter der russischen Städte«, liegt außerhalb, ebenso wie Odessa oder die Krim. Nur

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