Grenzwärts
und war wohl das, was man charmant nennt. Außerdem bekam er mehr Taschengeld als andere, denn seine Eltern waren reich. Sie betrieben eine kleine Spedition und achteten streng darauf, dass sie nicht wuchs, damit sie nicht vom Staat enteignet und zu Volkseigentum umgewandelt wurde. Auch spendeten sie regelmäßig große Summen für den Aufbau des Sozialismus und stellten das Freibier auf den Maiveranstaltungen der Partei. So ließ man ihnen, wie Roland es ausdrückte, Firma, Haus und Hof.
Warum er, ein Weiberheld, der jedes Mädel haben konnte, ausgerechnet ein Auge auf Julia geworfen hatte, weiß ich bis heute nicht. Es begann damit, dass er sie öfter zum Eis einlud oder ins Kino. Sie haben sich immer denselben bescheuerten Film angesehen, und hinterher war Rolands Gesicht ganz beschmiert von Julias Lippenstift. Ich hätte den Kerl töten können. Ich tat es nicht, weil Julia dann sehr traurig gewesen wäre.
Fortan waren wir zu dritt am Baggersee. An ihrem letzten Tag hatte Julia zwei Flaschen Wodka mitgebracht. Sie weinte die ganze Zeit, sagte uns aber nicht, warum. Zum Schluss waren wir so betrunken, dass wir nicht mehr stehen konnten und auf der Stelle einschliefen.
Am nächsten Tag war Julia fort. Die ganze Familie – alle weg, über Nacht verschwunden. Ausgebürgert, hieß es, und abgeschoben in den Westen. Sie hätten nur vierundzwanzig Stunden Zeit gehabt, ihre Sachen zu packen.
Drei Wochen später kam der erste Brief. Julia lebte jetzt in Düsseldorf. Unerreichbar und so weit weg wie der Mond. In den ersten Monaten schrieb sie regelmäßig und beklagte sich, wie sehr sie uns vermisse. Aber dann wurden ihre Briefe seltener. Das Letzte war eine Postkarte aus Teneriffa. Sie kam kurz vor dem Mauerfall.
Fast vier Jahre sind seitdem vergangen. Vier Jahre, in denen wir nichts von Julia gehört haben. Roland machte ein paarmal den Vorschlag, einfach nach Düsseldorf zu fahren, aber irgendwie wurde nie etwas daraus.
Und jetzt kommt sie zu uns zurück. Plötzlich und vollkommen unerwartet. Warum? Weil sie noch immer in Roland verliebt ist? Die Karte ist eindeutig an ihn adressiert. Im Text aber richtet sie sich an uns beide. Oder?
»Mache ein Praktikum in Zittau und komme Montag, 11.20 in Dresden an. Vielleicht kann mich einer von euch abholen. Hauptbahnhof, Gleis 3. Bin gespannt, ciao, ciao!«
Na ja. Verzweifelte Sehnsucht klingt anders. Aber vielleicht will sie ihre Gefühle nicht einfach so auf ‘ner Postkarte ausdrücken. Wer weiß schon, wer das noch liest? Immerhin ist sie gespannt. Vermutlich auf mich. Ich bin schließlich ihr bester Freund, was ihr immer sehr wichtig war. Das mit Roland könne morgen schon vorbei sein, hat sie immer gesagt. Unsere Freundschaft dagegen werde ewig halten.
So toll fand ich das nicht, denn ich hätte sie auch gern mal geküsst. Im Kino rumgeknutscht und all das gemacht, was Roland mit ihr machen durfte.
Mal sehen. Vielleicht kommt ja jetzt meine Zeit. Vielleicht ist Julias unverhoffter Besuch einer jener seltenen Fälle, in denen einem das Leben eine zweite Chance beschert. Und diese Chance werde ich mir ganz sicher nicht entgehen lassen.
In aller Früh breche ich in Zittau auf, mit zwei Kisten Dosenbier auf dem Rücksitz, denn nüchtern halte ich die Anspannung nicht aus. Mein alter GAZ sieht aus wie neu. Das ganze Wochenende habe ich an ihm herumgewerkelt, Vergaser neu eingestellt, Roststellen behandelt, den Wagen geputzt und poliert. Jetzt läuft er wieder wie ein Uhrwerk.
Man fährt zwei Stunden bis Dresden, ich schaffe es in anderthalb und bin weit vor der Zeit am Hauptbahnhof. Aber das ist besser als zu spät. Ich warte auf dem Bahnhofsvorplatz, habe die Füße auf die heruntergeklappte Windschutzscheibe des Jeeps gelegt, köpfe zwei, drei Bier und höre ein Tape von den »Böhsen Onkelz«.
Laut schallen die »Heiligen Lieder« über den Platz, die Leute gucken blöde, irgendwelche Spießer schütteln den Kopf. Taxis fahren vor, bringen Fahrgäste zum Bahnhof oder holen sie ab. Straßenbahnen stoppen quietschend an ihren Haltestellen und fahren surrend wieder los. Die Sonne steigt langsam höher, es wird wärmer, und von den Bäumen fallen herbstgelbe Blätter. Das Bier tut seine Wirkung. Ich werde allmählich lockerer und drehe die Lautstärke noch ein bisschen auf.
»Hier sind die süßesten Noten jenseits des Himmels,
heilige Lieder aus berufenem Mund.
Wahre Worte im Dschungel der Lüge,
das Licht im Dunkel, ein heiliger Bund.
Wie
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